Bis ans Ende der Welt
Herbergsvater ein gutes Wort einlegen. Endlich redete der Mann Vernünftiges. Es goß in Strömen, ich konnte nicht weiter und hätte vor der leeren Herberge wie ein dummer Junge noch Stunden warten müssen. Natürlich wollte ich hinein. Das wußte ich um so mehr schätzen, als innen ein herrliches Kaminfeuer brannte, vor dem ich mich trocknen und richtig aufwärmen und zwanglos mit dem englischen Verwalter und seinen Hiwis plaudern konnte. Und ich lobte die Engländer über alle Maße. Wer sonst als sie käme auf den Gedanken, mit dem Haus auch den Kamin zu restaurieren. Nicht einmal duschen wollte ich gehen, so gemütlich war es hier.
Aber am Ende, als immer mehr nasse Pilger ankamen, ihre Schuhe und schmutzigen Sachen an den Kamin hängten, den bis dahin ruhigen, gemütlichen Raum mit tausend Problemen und Nichtigkeiten füllten, verging der Zauber, und das inzwischen überfüllte Haus wurde zu einer gewöhnlichen spanischen Herberge, einer mühsamen Schlafstelle unter vielen, die ich unterwegs besuchte. Eingedenk der reuigen Gedanken vom Morgen, wollte ich darüber hinwegsehen, wenn die deutsche Besatzung unter der Gitarrenbegleitung eines recht verwegen aussehenden Spaniers völlig falsch internationale Gassenhauer grölte. Mochten sie doch, wie sie es immer betonten, jeder nach seiner Façon denn glücklich werden. Ich verzog mich in die Küche und fing dort ein Gespräch mit einem sympathischen Jungen aus einer Vorstadtsiedlung bei Orleans an. Es gab dort damals gerade einen Aufstand junger Araber, die durch die Straßen zogen, Autos anzündeten, Geschäfte plünderten und dergleichen mehr. Seine Erfahrung war sozusagen die eines Augenzeugen. Er meinte, er habe Verständnis für die teilweise sehr gut ausgebildeten arabischen Jugendlichen in den Banlieues, denen die böse französische Gesellschaft keine Chance läßt. Und wenn sie sein Auto anzünden würden, fragte ich. Er habe kein Auto. Dann vielleicht etwas anderes, was er gerne habe, beharrte ich auf meiner Frage. Er hatte keine solchen Vorlieben. So fragte ich ihn, was oder wen er denn überhaupt gerne habe, und wenn, ob er es ohne mit der Wimper zu zucken dem vom Leben enttäuschten Pöbel überlassen würde. Hier aber brach er ab. Er möchte über solche Dinge nicht reden, das sei seine Sache und für eine Diskussion zu persönlich. Es half auch nichts, das Gespräch auf die für Fremde völlig überhöhten Preise in der Schweiz lenken zu wollen. Das Thema lag mir ja aus den schon erwähnten Gründen sehr am Herzen. Wo sonst in meinem Leben mußte ich mangels Kasse auf dem Friedhof übernachten? Aber es half nichts. Auch wenn ich mit den Franzosen bisher nur bestens auskam, hier war ich unten durch. Also verzog ich mich in den Schlafraum, und sammelte unterwegs auf dem Treppenabsatz vor dem Kaminzimmer meinen Pulli vom Boden auf. Ich vergaß ihn vorher im Kaminzimmer auf dem Stuhl, und man schmiß ihn – aus Gründen, die mir verborgen blieben — einfach vor die Tür hinaus. Aber was soll’s? Der alte Pulli ertrug die Behandlung mit Würde und ohne Schaden, und ich hatte ihn wieder.
Molinaseca, km 2734
Ich schlief in dieser Nacht keinen gerechten Schlaf, wachte mehrmals auf und mußte am Ende den überfüllten, unruhigen Schlafsaal verlassen, um im Hof auf der Veranda nach Luft und Raum zu suchen. Aber es goß aus allen Röhren, der Sturm rüttelte an den Balken, und ich machte mir Sorgen um den kommenden Tag, wenn es denn so weiter bleiben sollte. Wie konnte ich denn so blöd gewesen sein, in Savoyen die schöne feste Bergwanderhose nach Hause zu schicken? Und überhaupt, mußte ich über ein Gebirge, so schien dort gerade ein Weltuntergang zu herrschen. Wie bestellt! Wie kam ich denn dazu? Ich nahm mir vor, später den netten Herbergsvater zu fragen, ob er nicht ein passendes vergessenes Beinkleid verschenken möchte, und ging danach etwas beruhigt wieder schlafen. Beim Frühstück wagte ich dann die Frage, als er an meinem Tisch vorbeikam, um guten Morgen zu wünschen. Da strahlte der Mann vor Freude auf und rief, das sei der wahre Geist des Camino, dieses Leiden, diese Erniedrigung, wenn der Pilger, kalt und hungrig, aus letzter Kraft mit blutigen Füßen über den Felsen schlürfe. Da stehe er dem Herrn am nächsten, da sei er dem Herrn gefällig, da käme er zum Heil. „Das ist dein Camino!“ gratulierte er mir zu meinem Glück und wünschte, der Sturm möge nicht zu schnell nachlassen und es vielleicht auch noch bißchen schneien. Das
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