Bis ans Ende der Welt
dreitausend Kilometer auf dem Buckel. Die Strapaze wog und verband. Zu meiner Überraschung fand auch Simon das spanische Camino Francés schwer erträglich. Er laufe am Tag nie weniger als vierzig Kilometer, erzählte er, nur um es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Und mit den Piefkes, die hier alles so schön und aufregend finden, rede er lieber gar nicht. Meine Rede doch. Es tut immer gut, eigene Vorurteile mit anderen zu teilen. Da es hier eine Pilgermesse gab, gingen wir natürlich hin. Alte Pilgerprofis, katholisch bis zur Sohle. Wir brachen zeitig auf und nahmen noch Rachel, eine junge Frau aus Puerto Rico mit. Ich beobachtete sie schon seit Tagen, wenn ich sie zufällig traf. Sie war sehr hübsch, ein echter Blickfang, doch auch eine gewachsene Persönlichkeit. So redete sie nicht viel, doch mit Bedacht, und sie wußte sehr tüchtig zu marschieren. Drei veritable Eigenschaften, mit denen sich nicht ein jeder schmücken konnte. Aber darum ging es hier nicht. Wir waren einfach nur drei Pilger nach einem anstrengenden Marsch, die es zur Messe zog.
Die Kirche von Barbadelo ist uralt, aus großen verwitterten Quadern zusammengefügt und wie eingemauert von schiefen Grabsteinen des engen Friedhofs rundherum. Alles voll hier seit langer Zeit. Um die Ruhe der Toten von damals nicht zu stören, baute man für die Toten von heute an der Mauer kleine, übereinander liegende Betonnischen. Nicht so romantisch. Aber ich sah nur diese alten schiefen Grabsteine. „Gepriesen sei der Mann, der diese Steine schont, und verflucht sei der, der meine Knochen bewegt,“ ließ William Shakespeare auf sein Grab meißeln. Diese Toten hier könnten am jüngsten Tag noch aus ihren Gräbern steigen und weiterleben. Wer aber werde meine Ruhestätte schonen, wenn keiner mehr da ist, der bezahlt? Wird man nicht auferstehen? Die Heilige Schrift wörtlich zu nehmen, hatte so seine Risiken. Was war denn wörtlich und was weniger wörtlich zu nehmen? Alles allezeit kontrovers, voller Widersprüche, weshalb früher die katholische Kirche die Bibellektüre auch nie forderte und bestenfalls unter geistiger Anleitung empfahl. Sonst nähme man sich, was paßt, ließe Unnützes, Schädliches, Verwirrendes weg, und sei sich selbst der Prophet. Je größer das Wissen, um so stärker die Zweifel. Von diesem Standpunkt her gesehen war es sehr tröstlich zu wissen, daß man diese Toten hier einfach ruhen ließ, bis sie beim Ruf der Posaunen aus ihrem Grab steigen.
Außer uns kamen nur wenige Menschen zum Gottesdienst. Ein paar meist ältere Pilger und kaum Einheimische. Auf der Schwelle putzten vier Altweiber in aller Ruhe das Meßsilber, zwei andere zischelten hinter meinem Rücken, während der Pfarrer, welcher Fernandel als Don Camillo verblüffend nahe kam, die Liturgie in monotoner Stimme und grobem Dialekt wie eine außer Kontrolle geratene Kaffeemühle herunter ratterte. Die Kehrverse der Gemeinde wartete er erst gar nicht ab, das hätte bei all den Ausländern wohl zu lange gedauert, sondern sprach sie gleich selbst. Ohne Komma, ohne Bindestrich, ohne auch die Stimme zu senken. Kurz und bündig, in neunzehn Minuten schaffte er die komplette Messe samt dem üppigen Pilgersegen. Eine veritable Leistung, wie jeder Priester bestätigen kann. Und der Herr, der bei den silberputzenden Weibern stand, hörte es gelassen und ohne Kritik, denn dieser Priester las die Messe seit zig Jahren brav, pflichtgetreu, unermüdlich auf eben diese seine Art. Und dann erst recht die Einheimischen. Auch sie kannten ihren Hirten, sie schlugen an der richtigen Stelle das Kreuz und mischten sich ansonsten nicht in die Liturgie ein. Wo hätten wir, hergelaufene Ausländer, da eine Chance, diesem Gottesdienst dreitausend Kilometer mehr Würde und Inspiration zu verleihen? So nahmen wir den Segen und gingen, während die RTL-Jünger, die den Pilgersegen stets gerne mitnehmen, doch ungern zur Messe gehen, erst den Kirchenhügel hoch eilten. Ihnen machte der flinke Don Camillo einen Strich durch die Rechnung, und nur wenige schafften es rechtzeitig. Wir aber waren uns hochnäsig einig: Diese messescheuen Heiden verdienten es nicht anders. Wären sie doch besser zu Hause auf dem Sofa vor dem Fernseher geblieben, mit einer Tüte Kartoffelchips im Schoß und der Bierflasche in der Hand. Aber es war uns nicht ganz Ernst mit der Schadensfreude. Wir trugen den Segen zurück in die Herberge, wo schon der Verwalter werkelte, um für Ordnung zu sorgen und das magere
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