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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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Gegend herum, wie er es sonst gerne tat, sondern blieb an meiner Seite, Schritt für Schritt. Die Sonne schien, und die Luft war frisch und würzig. Nirgendwo lag auch nur ein Fetzen Papier herum – wie noch gestern. Alles war perfekt. Vorsichtshalber prüfte ich meinen Körper. Also, gesund war ich noch nicht. Allerdings hatte ich auch keine Beschwerden. Der Kamillentee, den ich statt eines Frühstücks hatte, bereitete dem Verdauungstrakt keinerlei Umstände. Das Fieber war weitgehend weg – soweit ich es ohne Thermometer feststellen konnte. Sehnen, Muskeln, Gelenke funktionierten einwandfrei. Das Herz schlug langsam und regelmäßig, stach nicht gegen die Brust. Das Gehirn drückte nicht gegen den Schädel, ich sah nicht doppelt oder verschwommen, nichts brannte oder juckte. Nur die Fußsohlen waren ein wenig taub. Alles war bestens. Ich war also auf dem Weg nach Santiago de Compostela, und es sah tatsächlich so aus, als ob ich dort ankommen sollte. Sant Jago, Saint Jean, Heiliger Jakob – was für ein Stadtname. Oder wartete da doch noch ein Lastwagen an der Ecke?
    Aber es gab keine Lastwägen hier. Es schien überhaupt keine Autos zu geben. Die Straßen waren leer und sauber. Pilger gab es offenbar auch kaum. Einmal sah ich welche vor einer futuristisch anmutenden Herberge zu faulenzen. Hübsche, blonde Mädchen, die sich in der Sonne aalten. Ein anmutiges Bild. Ein paar übermütige Jungpilger, die ich einholte, traten eine platte Coladose vor sich hin. Ich ermahnte sie, die Demut vergessend und eigentlich auch ohne Hoffnung, sie könnten auf meine Aufmüpfigkeit hören. Aber sie schienen mich zu verstehen, entschuldigten sich und trugen gar die Dose zum Abfallkorb. Erstaunlich! Stück weiter fabrizierten ein paar Portugiesen mit Rufen: „Viva Santiago!“ Stimmung und Lärm. Als sie kein Echo fanden, gaben sie auf. Der Herr winkte nur ab. Alles nur kleine Fische. Und so gingen wir weiter und weiter, immer tiefer in die Altstadt eintauchend, bis ich dann — nach einer letzten engen Gasse – plötzlich vor der Kathedrale stand.
    Die Glocke rief zur Zehnuhrmesse auf. Dazu war ich noch nicht bereit — zu aufgeregt. Bis zur Pilgermesse um zwölf Uhr war es noch reichlich Zeit. Und es gab Formalitäten im Pilgerbüro zu erledigen. Ich rechnete nicht damit, daß der Herr mitkommen möchte. Plätze wie diesen liebte er, hier fand er gleich Betätigung. Aber mein Behördengang war notwendig, wenn ich die Pilgerurkunde haben wollte. Welches Interesse sollte der Herr denn an einem Büro haben? Aber er ging mit und tat genau das, was ich dachte, er werde es draußen, auf dem belebten Platz tun. Das Pilgerbüro schien ihm zu gefallen. Er ging wie üblich von einem zum anderen, schien auf eine geheimnisvolle Art mit den Menschen zu kommunizieren, manche berührte er gar, was sie gleich froh und beschwingt machte. Es waren nur ein paar Pilger da, und ich unterhielt mich eine halbe Stunde mit einer hübschen spanischsprachigen Amerikanerin, die dort aus irgendeinem Grund angestellt war, fragte sie nach dem Pilgergeschäft und dem Persönlichen aus. Sie erzählte mir, daß bereits hundertzwölftausend Pilger in diesem Jahr eine Pilgerurkunde erhielten und man bis zum Jahresende mit weiteren zwanzigtausend rechnet. Umständlich deponierte ich das Gepäck im Hinterzimmer und dolmetschte anschließend noch ein wenig am Telefon, weil ein paar Deutsche ihre Pilgerbücher verloren und neue besorgen wollten und nicht wußten, wo. Niemand im Pilgerbüro wußte etwas und schien sich deshalb keine grauen Haare wachsen zu lassen. Und eigentlich auch die betroffenen Deutschen nicht, so daß ich am Ende ganz verlegen wurde. Habe ich womöglich etwas versäumt, habe ich alles richtig gemacht? Nein, der Herr war hier und nahm alle Sorgen von uns.
    Er verließ mich erst in der Kathedrale. Sie ist so großartig, so wundervoll, wie es sich die Millionen Pilger in der Geschichte des Jakobweges nur erträumten, und es nie bereuten, all die Strapazen auf sich genommen zu haben. Trotz des vielen Barocks wirkt sie keineswegs kitschig, wie es viele spanische Kirchen eben tun. Im Gegenteil, der Eindruck ist der von Einfachheit und Erhabenheit. Unter all den vielen wundervollen Kirchen, die es gibt, ist diese Kathedrale ohne Zweifel etwas Besonderes. Romanik, Gotik und Barock entfalten jede für sich und alle zusammen vortreffliche Wirkung. Und doch sind sie alle nur ein Kleid für den Raum. So wie Notre-Dame in Le Puy-en-Velay, Sainte-Foy in

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