Bis ans Ende der Welt
schrie: „Qui est la? Répondez!“ Und sie nahm absolut keine Rücksicht auf meine nackte Privatsphäre und machte Licht und Palaver, bis ich genervt die Tarnung aufgab und zurückrief: „C’est moi, dormi!“ Jawohl! Und es zeigte auch sofort Wirkung, denn Frauen können echt nervig sein, aber in diesen Sachen sind sie nicht besonders klug. Sie hörte auf, überall hin zu leuchten und zu schreien, und ich konnte endlich aus dem Teich steigen, mich trocknen und die Abendtoilette beenden. Aber ich sah sie noch hinter dem Fenster spähen und rechnete eigentlich fest damit, daß mich schon kurze Zeit später Rex besuchen kommt. In dieser Lage hätte es zu Mißverständnissen oder gar Oberarmbissen führen können. Doch Rex kam nicht. Er mußte die siegestrunkenen Türken vor der Rache der enttäuschten deutschen Fans beschützen und hatte für den Unsinn hier wohl keine Zeit. Es war allerhand los in der Stadt, überall heulten Polizeisirenen, aber sie galten nicht mir, und nach einer Weile schlummerte ich trotz schlechten Gewissens ein, und schlief, selig und ungestört, bis zum Morgengrauen.
Genf, km 913
Am nächsten Morgen starteten wir schon sehr früh. Ich wollte auf keinen Fall der hysterischen jungen Dame vom Vorabend begegnen. Christoph, wohl von der Privatsphäre gedrängt, nahm schon nach ein paar Schritten endgültig Abschied. Vielleicht war es nur die Enttäuschung über die mangelnde deutsche Kampfleistung, mit der er allein fertig werden mußte. Ich überließ ihn seiner Trauer und stieg auf den Spuren der flüchtigen Konserven zum Genfer See herunter. Lac Léman heißt er heute auf Französisch, abgeleitet vom lateinischen Lacus Lemanus, im Mittelalter nannte man ihn auch Lac de Lausanne oder Lac d’Ouchy. Vielleicht noch mehr. Manche Orte haben das Pech, mit wechselnder Herrschaft immer neue Namen zu bekommen. Der See aber war immer derselbe, über siebzig Kilometer lang, bis zu dreizehn Kilometer breit und bis zu dreihundert Meter tief. Das ist viel Wasser, fast schon ein kleines Meer. Cellini, der Schöpfer des Perseus, geriet hier auf dem Weg nach Frankreich in einen schlimmen Sturm und bangte ums Leben. Mein Plan war, vor der Weiterreise noch zu baden und die verschwitzten Klamotten zu waschen. Bei der Größe schien es mir noch ökologisch vertretbar. Doch am Ufer war schon viel los. Typische Großstadtaktivisten in knalligen Gummihosen schwirrten herum, Hunde wurden Gassi geführt, Fahrradglocken alarmgeläutet, Picknickkörbe zum Frühstück geräumt. Ein Trupp Arbeiter mähte mit großem Krach den kommunalen Rasen und schnitt überschüssige Äste ab. Daraus entnahm ich, daß es kein Sonntag war. Aus den knatternden Geräten stiegen blaue Abgaswolken und stanken infernalisch. Dazu machte der See ein bleiernes, bösartiges Gesicht. Tiefe Gewässer tun das. Ich fühlte mich hier nicht ganz wohl und ging bald weiter. Ich war ja frei.
Dem Führer nach zu urteilen, sollte die Bebauung am Ufer immer dichter werden, je weiter man kam und sich der Stadt Genf näherte. Die Karte zeigte dort lauter Straßen und Häuser. Die übliche Zersiedelung der Landschaft. Überall wird ja gebaut und betoniert, als ob das Land dehnbar wäre. Mehr, mehr, noch mehr, noch besser! Sonst hätte man keinen Platz, wohin man mit dem Auto fährt, mit dem Flugzeug fliegt. Man hätte nichts zu tun, säße zu Hause und sähe sein Elend und seine Armseeligkeit bis zum Tode. Jedenfalls sah es so aus, als ob die letzten dreißig Kilometer mehr oder weniger aus harten Gehsteigen bestanden. Und das war nicht gut. Also beschloß ich, nur solange zu marschieren, solange der Weg am Ufer durch die freie Natur führte, dann aber lieber das Schiff zu nehmen. Das Schiffahren war schließlich eine alte Pilgertradition – nicht nur erlaubt, ja sogar ausdrücklich empfohlen. Daran zweifelte ich keine Sekunde, ich hatte ja eine Schwäche dafür. Außerdem bin ich in praller Sonne, mit Rucksack und Bergschuhen auf hartem Beton weder mir selbst noch sonst jemanden ein guter Freund. Ich mag weder, daß mich besorgte Anwohner hinter dem Fenster ausspähen noch mir von der Gartenlaube mit Wein und Bier zuprosten und „alles Gute“ wünschen. Ich mag nicht, von lärmenden, stinkenden Autos und Mofas überholt zu werden, auf grüne Ampeln zu warten und Jugendlichen auszuweichen, die es offenbar selbst nicht können. Ich mag keine grünen Minnas, kein Blaulicht, keine Sirenen, die es seit einigen Jahren überall auf den Straßen gibt. Nach
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