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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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einer Weile geht das Böse auf mich über, und der Herr ist dann nicht mehr mit mir. Auch deshalb war es sehr ratsam, das Schiff zu nehmen. Sollte es meinetwegen im Sturm untergehen, ich hätte keine Bange.
    In Genf wollte ich dann einen freien Tag einlegen. Den letzten hatte ich in Kempten – an die fünfhundert Kilometer zurück. Seitdem war ich jeden Tag fast dreißig Kilometer unterwegs. Eine kleine Pause täte mir sicher wohl. Schon wegen der Blasen. Immer neue kamen dazu, vor allem, wenn der Weg schwieriger wurde. Als ich die neuen Bergschuhe kaufte, rechnete ich zwar damit, sie erst einlaufen zu müssen, aber nach Hunderten von Kilometern waren sie immer noch steif und unnachgiebig, weshalb der Fuß darin hin und her rutschte. Bestimmt stimmte etwas mit der Fußunterlage nicht. Am Übergang zwischen der Sohle und der Ferse bildeten sich tiefliegende Blasen, die sich nicht aufmachen ließen und bei jedem Tritt stechenden Druckschmerz verursachten. Und doch war ich im Vorteil. Nach dem Motorradunfall litt ich monatelang an großen Qualen, später entwickelte ich – vermutlich durch die Betäubungsspritzen für die Operationen – bestialische Rückenbeschwerden, gegen die überhaupt keine Schmerzmittel halfen. Der Rücken tat auch jetzt noch weh. Ich lernte jedenfalls, Schmerz geistig abzuschalten. Er war zwar da, aber er hatte keine große Bedeutung. Ebenso wie das ständige Naßschwitzen. Es war lästig und äußerst unangenehm, aber es hinderte einen nicht am Gehen. Aber einen Tag Pause, ja, den hätte ich gern. Leisten konnte ich mir ihn. Ich war schon zwei Tage dem Plan voraus, und hier würde ich einen weiteren Tag sparen. Also, nichts als nach Genf und faulenzen!
    Ich marschierte los, und es war eine gute Entscheidung. Schon einige Kilometer weiter traf ich kaum noch jemanden, auch in den Ortschaften nicht. Der Weg folgte dem Ufer durch Weiden und Laubgärten. Es gab uralte Kirchen mit niedrigen Pforten, in denen man sich für eine Weile vor der stechenden Sonne verstecken konnte. Diese Bauten brachen die Zeit auf, machten sie wie einen tiefen, bewegten Raum sichtbar. Seit einer Ewigkeit siedelten hier Menschen. Schon im Römischen Reich und früher. Sie wurden geboren, lebten eine Weile, vergingen. Wozu? Damit sich die Natur beim Überlebenstraining nicht langweilt? Ein kleines Stück ging der Herr wieder mit und ließ allen Schmerz vergessen. Der See verlor seine Häme und wurde unter der Sonne schön und heiter. Ein Paradies auf Erden, so schien es. An den Anlegestellen kamen Menschen zusammen, machten Mittagspause unter kurzgeschorenen Ahorn- und Akazienbäumen, die einen mageren Schatten gaben. Alles ging ruhig und sittlich zu — die Schweiz eben. An einem solchen Ort erstand ich Milch und Kuchen und machte Mittagspause. Gute, kühle Milch auf einer Bank vor dem See. Fett, Kohlehydrate, Proteine, Mineralien, Vitamine, Flüssigkeit. Als Seelennahrung das Seepanorama. Ich saß einfach da und genoß die Urlaubsstimmung. Ich werde ja nicht so schnell wiederkommen, dachte ich mir zur Ausrede. Als bescheidener, netter Zeitgenosse, der ich vielleicht gar nicht bin, wurde ich schließlich von einer ortsansässigen Krankenschwester angesprochen und zum Kaffee eingeladen. Es schien mir fast, sie wäre enttäuscht gewesen, hätte ich abgelehnt. Wochen später schickte sie mir per SMS noch eine spanische Adresse, wo man frei übernachten konnte. Wo blieben da meine Vorurteile?
    Oft wandert man tagelang über Berge und Täler einsam und beschaulich, als ob man der letzte noch übrig gebliebene Mensch auf Erden wäre. Dann aber plötzlich steckt man wieder im regen Austausch. An Stab und Muschel ist man ja sichtbar und als Pilger leicht zu erkennen. Man grüßt alle und jeden auf dem Weg, auch in den großen Städten und oft mit verblüffender Wirkung. Man ist je eine Art weiße Krähe. Es ist auch statthaft, fremde Menschen anzureden, ein Schwätzchen zu halten und sich Mut zusprechen zu lassen. Wenn einem danach ist. Es gab die Einheimischen, meist von der netten, sympathischen Art, gutmütige, redselige oder auch nur neugierige Menschen. Viele waren selbst auch schon ein Stück auf dem Camino unterwegs, oder kannten jemanden, der es tat, und mochten es auch einmal tun. Es mutete wie eine unerfühlte Sehnsucht an, wie ein lichter, freundlicher Raum, der da irgendwo wartet, bis man ihn eines Tages betritt. Da fühlte man sich gleich ein wenig besser, vergaß die Strapazen im Gespräch. Angeblich pilgerten

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