Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Einheimischen Jahrhunderte lang versteckt gehalten. 1837 setzte sich der Schriftsteller Prosper Mérimée, Autor der „Ca r men“, in seiner Funktion als oberster Denkmalschützer Frankreichs erfolgreich für den Wiederaufbau ein, und im Jahre 1873 wurden hier Prämonstratenser a n sässig, die auch das Pilgerhaus hinter der Kirche bewirtschaften.
Hier wogen die Menschenmassen hin und her, alles war voll touristischen Ta t drangs wie in einer Hotelrezeption irgendwo an der Riviera. Die meisten Gäste waren passend dazu sauber und adrett gekleidet, sind garantiert nicht zu Fuß über staubige, hitzeflimmernde Wege hierher gelangt. Es fehlte ihnen diese kle i ne Erschöpfungsfalte in der Wange, die sich nach so einem Marsch in die Ph y siognomie eingräbt. Und wie in so einer lebhaften Hotelrezeption, bedurfte es eines ziemlichen bürokratischen Aufwandes, um in den Schlafsaal zu gelangen. Wir haben hier viel Zeit verplempert und es mit Duschen und Wäschewaschen gerade zum Speisesaal geschafft, wo wohl über hundert Personen bereits auf das große Souper warteten. Als die Letzten nahmen wir hinten Platz, es stellte sich aber heraus, daß es die Stirn des Tischarrangements war und wir damit wie auf der Bühne saßen. Wie üblich, dieser Fehler passierte mir schon in Einsiedeln und wird mir immer wieder passieren, aber es war mir nach anderthalb Tausend Kilometer Marsch völlig gleichgültig. Ein Pilger regt sich nicht über alles auf. Nicht Eitelkeiten, sondern nur die elementarsten Dinge wiegen.
Es waren so ziemlich alle Bekannten vom Camino da, die wir in den letzten Wochen kennenlernten. Auch Stephanie und die zwei deutsche Ehepaare, auch die alte Frau mit dem Kind. Nur keine Joanna. Aber es war jetzt keine Möglic h keit, etwas zu tun, außer sich den Magen vollzuschlagen. Davor jedoch stand als Hürde noch die Ansprache des Abtes. Dieser Mann marschierte nicht den ga n zen Tag, verbrauchte nicht die letzte Kraft auf staubigen Wegen, drückte sich nicht Sohlen und Schultern platt, schwitzte nicht den letzten Tropfen verfügb a rer Flüssigkeit aus. Er verbrachte einen besinnlichen Tag, sein Zucker-, Wasser- und Mineralienhaushalt waren im perfekten Gleichgewicht. Also begrüßte er die lieben Pilger überschwenglich und ausdauernd, damit sie etwas für ihr Geld und ihre Mühe bekommen und sich gut an Conques und die hier erbrachte Gas t freundschaft erinnern, wenn sie nach Hause zurückkehren. Ich aber war hungrig und durstig, daß mir das Hören und Sehen verging. Ich wette, so etwas wäre dem lieben Abt nie in den Sinn gekommen. Nicht an diesem Tag. Immerhin ha t te die Aktion etwas Gutes. Erstens lud er uns alle zu einem Gesangskonzert in der Kirche ein. Zweitens tauchte, verstaubt und verschwitzt, mitten drin Joanna auf. Gut, daß wir einen Platz für sie freigehalten haben. Sie aß wortlos mit uns und verzog sich nach dem Dinner ähnlich wortlos ins Bett, wo sie sofort ei n schlief. Die Arme muß ziemlich fertig gewesen sein.
Nun sind wir also mit Sissi ins Konzert gegangen, das in der Akustik des dre i stöckigen Kirchenschiffes ziemlich einmalig war. Angeblich waren die Sänge r knaben in Frankreich gut bekannt, was ich natürlich nicht wissen konnte, doch gerne zu glauben bereit war. Zu einem Zeitpunkt verteilten sich die Akteure in dem ganzen Raum, zogen umher, was verblüffende Klangeffekte nach sich zog. Das Publikum war begeistert und ließ sich beim Spenden nicht lumpen. Anso n sten war die Vorstellung eintrittsfrei. In der Pause kam Sissi plötzlich mit der Nachricht, sie werde nicht mehr auf dem Camino weitergehen, sondern am nächsten Tag mit dem Bus oder Taxi in Richtung Lourdes aufbrechen, um dann noch einen oder zwei Tage zu Fuß ans Ziel zu pilgern. Pas de Sissi . Keine Sissi mehr. Aus war’s mit Sissi. Ein Schock. Ich gewöhnte mich inzwischen so sehr an sie, daß ich mir eine Trennung kaum vorstellen konnte. Was sollte ich ohne sie machen? Ich war sprach- und ratlos. Sie faßte ihren Entschluß vermutlich schon vor einiger Zeit, hielt ihn jedoch zurück, damit er nicht zwischen uns steht. Sie hatte genauen Zeitplan für ihre Ferien, und irgendeine Cousine wartete schon auf ihren Besuch. Da war nichts zu machen. Sie wußte, was sie will. Z u gleich wurde mir klar, daß auch Joanna fortan nicht mitkommen wird. Sie brauchte dringend längere Erholung, wer weiß wie lange. Knieprobleme gingen nicht durch eine Mütze Schlaf weg. Ich war wieder auf mich allein gestellt. Und der Herr schickte
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