Bis ans Ende der Welt (German Edition)
RTL-Jünger, wie ich das neue deutsche Proletariat nenne, weil sich der TV-Sender auf dieses Publikum irgendwie spezialisiert. Sie hatten ihre eigenen Vorstellungen und Umgangsformen. Kaum einer von ihnen schien wir k lich am Arbeitsprozeß teilzunehmen oder ein konkretes Ziel im Leben zu haben. Es waren Studenten, Arbeitslose, Frührentner, Hausfrauen. Irgendwie schwebten sie in der Luft. Glaube und Religion schienen zweitrangig. Alle kanten das Pi l gerbuch des populären RTL-Komikers, manche gar auswendig. Sie wollten das, was sie gelesen haben, nacherleben und waren nun wegen des Camino voll aus dem Häuschen. „Großartig, fantastisch, erhebend!“ Wer anders dachte, war ein Frevler. Ich dachte anders. Ich suchte nicht den Geist eines Buches zu finden, sondern erfüllte mein Gelübde. Ich war seit mehr als zweitausend Kilometern auf den Beinen, fand es nicht unbedingt lustig und sah keinen besonderen Ve r dienst darin. Ich sah mich auch nicht über die Frevler erhaben, weil ich mein Motiv für besser hielt, ich tat ja nur, was ich tun mußte, wollte und sowieso tun würde. Gottes Wege sind verworren, und ich bin sicher, daß die meisten dieser Pilger, die hier unterwegs waren, und sei es vielleicht nur wegen eines Buches, auch fanden, was sie zu suchen glaubten, oder zumindest etwas, was die ganze Mühe wert war. Diejenigen, die hier in Roncesvalles eine Art Urlaubs- oder Selbsterfahrungsreise begannen, fand ich einen Monat später in Santiago auf e i ne subtile Art verwandelt wieder. Sie wurden vielleicht nicht direkt katholisch, aber doch irgendwie gläubiger, demütiger. Auch bin ich gewiß nicht der einzige, mit dem der Herr eine Weile mitging, und wem das passiert, kann nicht einfach derselbe bleiben.
Ich aber fühlte ich mich hier auf Anhieb fremd und unwohl. Ich mochte nicht das Land, den kommerzialisierten Massenbetrieb, die arroganten Deutschen, die immer und überall laut quasselnden Südländer, aber am meisten haben es mir die Radpilger angetan. Bisher war ich ihnen noch nicht begegnet, nun waren sie plötzlich überall, vorwiegend Spanier und Italiener. Es existierte ein separater Fahrradweg, auf dem man bequem hätte fahren können, ohne andere zu stören, aber das wäre ja nicht echt. Also befuhr man lieber den Fußweg, was ja auch keine Mühe bereitete, weil es hier überall abwärts geht. Ständig bimmelte hinten eine nervende Fahrradglocke, und man hatte zur Seite zu springen, um ein Du t zend bunte Gummihosen vorbei zu lassen. Hatte man wieder ein paar Schritte getan, folgten noch zwei, drei Nachzügler. Sie alle waren mächtig in Eile, als ob sie ein Rennen fahren würden. Besonders gut im Gedächtnis blieb mir eine Ra d lergruppe, deren Rücken und Hinterbacken mit dem Bild eines fetten Penis samt Zubehör geschmückt waren. Alles bewegte sich durch das Tretbewegung auch noch recht obszön hin und her. „Schwule Biker nach Santiago,“ lautete die pa s sende Aufschrift. Ob es der heilige Jakob auch fesch und witzig fände? Der he i lige Paulus bestimmt nicht. Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung. [54] Denn Paulus kannte das G e setz: Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Greuel. Keinem Vieh darfst du beiwohnen; du würdest dadurch unrein. Keine Frau darf vor ein Vieh hintreten, um sich mit ihm zu begatten; das wäre eine schandbare Tat. Ihr sollt euch nicht durch all das verunreinigen; denn durch all das haben sich die Völker verunreinigt, die ich vor euch vertri e ben habe. Das Land wurde unrein, ich habe an ihm seine Schuld geahndet, und das Land hat seine Bewohner ausgespien. [55] Ewige Verdammnis? Was denn, wie denn? Hier trug man es gleich stolz auf dem Rücken. Und die Meinung der RTL-Jünger? „Jeder nach seinem Geschmack.“
An diesem ersten Tag versuchte ich noch, die Radler zu zählen, gab aber bei Zweihundert auf. Es hatte keinen Sinn, Unsinn mathematisch vertiefen zu wo l len. Allerdings waren sie recht höflich, und wenn der eine oder andere Fußpilger sie partout nicht vorbei lassen wollte, fuhren sie so lange hinterher, bis sie g e fahrlos mit Abstand überholen konnten. Aber sie nervten gewaltig durch ihre schiere Zahl und Frequenz und mußten sich wohl auch so einiges gefallen la s sen. Einmal, schon kurz vor Santiago, konnte ich mich nicht mehr beherrschen und rief einem wie wahnsinnig an mir vorbei bergab sausenden Radnachzügler nach, der Blitz möge ihn
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