Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Hitze entwich in der sternklaren Nacht zurück ins Weltall. Keine Vegetation konnte sie halten. A u ßerdem war es schon Ende August, der Sommer war hier bereits verbraucht. Ich fror in meiner kurzen, dünnen Jogginghose, die ich in Moissac geschenkt b e kam. Es geschah mir recht, ich hätte im Sahagún die Einkaufsgelegenheit nützen sollen. Im Gehen sinnierte ich darüber nach und kam zum Schluß, daß der Herr sich darum kümmern sollte. Damit war ich zunächst zufriedengestellt, da ich wußte, der Herr ließe mich nicht im Stich. Am Ortsausgang traf ich auf die Gruppe der Barbesucher. Sie schimpften auf den Besitzer, er habe sich gar nicht blicken lassen, sie hätten lange vor dem Haus umsonst gewartet. Eine Sauerei. Ohne gescheites Frühstück laufe sich schlecht. Ich gab ihnen recht. Es lebe das einfache Leben von Bar zu Bar.
Bis nach Reliegos traf ich dann niemanden mehr. Drei kleine Flüßchen und e i nen Bewässerungskanal gab es zu überqueren. An einer Kreuzung fuhr plötzlich ein Auto vorbei, ein anderes Mal mühte sich ein Traktor durch die Landschaft, und auf den parallel verlaufenden Schienen rasten auffallend häufig moderne Schnellzüge vorbei. Weiter dahinten konnte man die Autostraße und den regul ä ren Camino sehen. Kleine Pilgerfiguren bewegten sich unter den jungen Bä u men in gleicher Richtung wie ich. Fast mühelos, so schien es mir. Ich überlegte, wieder auf die andere, die gute Seite zu wechseln. Aber die Bahn war mir s u spekt, die Züge flitzten zu flink hin und her. So schnell und leise, daß es kaum Warnung gab. Von dem breiten Bahndamm käme man kaum schnell genug weg. Als Pilger von einem Intercityzug überfahren zu werden, war uncool . Außerdem täuschte die Perspektive. Auf dem flachen Land kam einem alles viel näher vor. Die heiße Luft über dem Boden wirkte wie ein riesiges Vergrößerungsglas. Wer weiß, wie weit es auf die andere Seite wirklich war. Lahm und unlustig ma r schierte ich weiter auf dem steinigen Weg, kam dennoch bald in Reliegos an und damit auch auf die von mir zuvor so ersehenswerte Pilgerautobahn. Sie war ta t sächlich frei von Kieselsteinen, aber die noch jungen Bäume boten keinen ne n nenswerten Schatten, und auch hier mußte man auf den eigenen Beinen stehen.
Das Ende der Tagesetappe lag für mich in Mansilla de las Mullas , einem, wie sich herausstellen sollte, recht gediegenen und gemütlichen Städtchen mit lauter verschlafenen Gassen und stillen Ecken. Es war die letzte natürliche Übernac h tungsstätte vor León, so dachten v iele andere Pilger wie ich. Dementsprechender Andrang herrschte schon am frühen Nachmittag in der Herberge. Der Laden war gerammelt voll. Auch ein paar alte Bekannte waren darunter. Man saß im I n nenhof und redete wild durcheinander. Alle möglichen Nationen, meist junge Menschen. Man verständigte sich meist in dem jeweils landesspezifischen Denglisch, was gut zu funktionieren schien. Zwei junge russischsprechende L i tauer, vielleicht Anhänger des dort angeblich noch überlebenden Schamanismus, wollten in Finisterre nach einer Muschel tauchen, um sie der Oma zu bringen. Sie wollten unbedingt hin, sei es zu Fuß, sei es mit dem Bus, jedoch auf keinen Fall ohne diese Muschel nach Hause zurückkehren. Sie waren wie die meisten Russen nicht gerade leise oder dezent, und ich hörte ihnen eine ganze Weile mit größtem Interesse zu. Sie haben die Sowjetunion nicht mehr erlebt, und ihre Wertvorstellungen unterschieden sich nicht im wesentlichen von denen der a n deren jungen Westeuropäer hier, mit denen sie sich somit perfekt verstanden. Auch Koreaner gab es wieder, geistig sehr ähnlich gelagert. Alles globalisierte, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzierte, fast wertfreie Bilder, wie sie von den allgegenwärtigen Medien über die Grenzen hinweg überall verbreitet werden. Kritisches Denken war nicht gefragt, es herrschte Elan und Begeist e rung, Unangenehmes ließ man beiseite. Am Tisch fragte ich einen Südkoreaner nach seiner Meinung zu Nordkorea, aber er verweigerte die Auskunft. Über so l che Themen wolle er am Tisch nicht reden. Es sei darum, so wichtig war mir die Antwort auch nicht, und ich überließ ihn der blonden Walküre, diesmal ohne den stiernackigen Geschäftsmann, um sich über die Wohltaten des einfachen Lebens aus dem Rucksack und der wunderbaren Völkerverständigung hier au s zutauschen. Unter anderen Umständen wäre diese Herberge vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Der Innenhof
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