Bis ans Ende der Welt (German Edition)
sein, damit sie gleich wieder zug e sperrt werden kann. Dazwischen gab es keinen Weg hinein oder hinaus, damit da nicht womöglich einer seinen Rausch ausschläft. Da waren die Spanier g e schickte Planer. Sie wußten über den willigen Geist und das müde Fleisch mit seinen Versuchungen, über Zucht und Ordnung gut Bescheid. Simon, ein sy m pathischer Junge, der von Nürnberg zu Fuß unterwegs war, erzählte mir, wie so ein Herbergsvater einem Pilger, der sich an die vorgegebenen Öffnungszeiten nicht halten und am Morgen unbedingt vorzeitig aufbrechen wollte, gar das Pi l gerbuch zerriß, was schließlich zu einem solidarischen Aufstand der Gäste füh r te. Das mit dem Aufstand war wohl etwas weit hergeholt, da die meisten Pilger sprichwörtlich brav wie die Schafe waren, und die Frühaufsteher meist als läst i ges, verbissenes Volk verachtet wurden. Doch immerhin hätten in diesem Fall die Rebellen das kostenfreie Frühstück boykotiert und seien statt dessen fast e i ne Stunde packfertig demonstrativ vor der verschlossenen Tür gestanden, bis zur gegebenen Stunde aufgemacht wurde. Und wo die Autorität der Herbergsväter nicht ausreichte, sollte die Pilgerpolizei für Zucht und Ordnung sorgen. Die gab es hier in Galicien zusätzlich zu den fünf anderen Polizeiarten, die ein Spanier im Alltag dringend braucht. Für oder gegen die Pilger? Das ist die Frage. A n sonsten müßten wieder mal die Terroristen dafür herhalten. Die schwarzen Sh e riffs traf ich an allen Ecken, auch einfach so in der freien Landschaft. Sie fuhren dicke, amerikanische Pickups und waren schick mit Fallschirmstiefeln, Gelen k schutz, Panzerweste, Handschellen und einem verchromten 385er Revolver g e kleidet. Spezialmunition, versteht sich, sehr eindrucksvoll. Schließlich ist die Kundschaft ja aus dem westlichen Ausland und Qualität gewohnt. Für mich pe r sönlich waren sie ein Affront. Gefährliche Schmarotzer. Ich verachtete sie und ignorierte sie auch, wenn sie mich direkt ansprachen. Die Gefahr war allerdings gering. Meist sah ich sie irgendwo in der Ecke hocken und dösen. Die Kerle w a ren ja vom harten Dienst am Pilger völlig fertig.
Aber wozu die Aufregung? Ich war wieder allein mit meinen Gedanken durch das welke Spätsommergrün unterwegs, und fühlte mich wohl. Der Herr trieb sich irgendwo in der Nähe herum, und der Tag versprach, nun noch schön zu werden. Nach dem gestrigen Gewitter am Abend war es angenehm frisch und kühl. Von Madrid bis Sevilla gingen nach langer Trockenzeit gewaltige Gewi t ter nieder, die alles platt schlugen und überfluteten. Es hätte mich auch ung e schützt irgendwo im Gebirge erwischen können, doch ich nahm es längst gela s sen. Nichts konnte mir geschehen, wenn der Herr da war. Er stillt mein Verla n gen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. [77] Damit rechnete ich längst fest, auch wenn ich mir nicht immer sicher war, meine Hausaufgaben g e macht zu haben. Immerhin bin ich etwas demütiger geworden. Soweit es meiner Unbotmäßigkeit möglich war. Doch ein gewisser Fortschritt ließ sich nicht leugnen. Ich ertrug Hitze und Kälte, Hunger und Durst, Fieber und Schmerzen, giftige Wanzen, drängelnde Radfahrer, italienische Schnarcher, iberische Schwätzer und impertinente Angeber aus dem Ruhrpott. Ein guter Anfang für das, was in meinem Leben noch kommen mochte. Was aber wollte denn noch kommen? Ich hatte ja keine Pläne über das hier hinaus. Und war es denn übe r haupt genug vor dem Herrn? Die Pilgerschaft neigte sich nun unaufhaltsam dem Ende zu, der Fluß sollte sich ins Meer ergießen und darin aufgehen. Darüber konnte ich nur staunen, da es so unvorbereitet kam. Doch ich hatte Vertrauen. Der Herr war wider da, nichts konnte schiefgehen, alles war richtig so, wie es eben war. Ich spürte, Gottes Schöpfung ist perfekt, bis zum letzten Winkel, trotz Tod, trotz Schmerz, trotz Leiden. Weil es den Trost gibt. Auch jenseits aller Hoffnung. Ich erinnerte mich plötzlich, wie ich nach dem Unfall da lag, eine schwarzlederne zerbrochene Hülle auf weißen Flußkieseln, die ich, schon davon schwebend, bereit war aufzugeben, bis eine Frau meine Hand nahm und mich nicht losließ, bis ich in meinen Körper zurückehrte und den mickrigen slowen i schen Polizisten verachten konnte, der sich aufregte, was denn dieser blöder Kerl da im Dreck so schreien müsse. Und als es die Frau nicht mehr aushielt, hielt ihre Tochter meine Hand und danach die junge Ärztin im Krankenwagen. Es
Weitere Kostenlose Bücher