Bis ans Ende der Welt (German Edition)
gibt den Trost.
Ich sah die Luft über dem Tal weicher, diffuser zu werden. Spektakulär waren die Hohlwege in den Laubwäldern. Alles ordentlich romantisch mit Moos und Efeu bewachsen. Wie in einem verzauberten Märchenwald. Ich sah die Ruhe, das Lichtspiel, die Schönheit. Keine Autos, keine Radfahrer, wie herrlich. So g e langte ich nach Barbadelo, einen mickrigen Weiler aus großen grauen Steinen zusammengefügt, das denkbar uralt sein mußte. Die Herberge am Rande war a l lerdings neu. Und wieder einmal voller Mängel. Kaum Duschen, kaum Toile t ten, überhaupt kein Geschirr in der Küche, nicht einmal ein Becher oder eine Wasserkanne. Ich hätte wetten können, daß sie noch nie benützt wurde. Dafür florierte unweit davon ein nettes kleines Landgasthaus, bei dem um diese Zeit die betuchten Pilger gruppenweise in Taxis ankamen. Sie kamen in guter Sti m mung, und es war schön anzusehen, daß ihnen die Pilgerschaft richtig Spaß macht. Ich las die ausgehängte Speise- und Weinkarte und fand, daß sie dazu j e den Anlaß hatten. Auch ich hätte mich verführen lassen mögen, aber das Aben d essen gab es erst ab zwanzig Uhr. Zu spät. So verzog ich mich zum Dinner auf einen kleinen Hügel, unter dem ein altes Kastell begraben liegen mochte, und genoß von dem, was es in einem fahrbaren Kiosk hinter der Herberge zu kaufen gab. Von da kam auch eine Pulle billigen Rotwein, der hier freilich etwas teu e rer als sonst verkauft wurde, der jedoch gar nicht so schlecht war, als daß man sich über den Preisaufschlag ärgern müßte. Wie zwei fetten Spinnen lauerten Restaurant und Kiosk über der Herberge, um in aller Gemütlichkeit von den Pi l gern zu zehren. Der herrliche Blick war jedoch gratis.
Wieder zurück im Schlafsaal traf ich auf Simon. Mit dem verstand ich mich i n zwischen wirklich gut. Auch schon deshalb, weil er ein Zwillingsbruder von Christopf hätte sein können, mit dem ich in der Schweiz ein paar Tage bis La u sanne unterwegs war. Er trug dasselbe rote, auf die maurische Art geflochtene Haar, Gesicht, Figur, Größe, Ausdruck, alles war ihm zum Verwechseln ähnlich. Manche Menschen haben scheinbar doch einen Doppelgänger. Beide hatten wir fast dreitausend Kilometer auf dem Buckel. Die Strapaze wog und verband. Zu meiner Überraschung fand auch Simon das spanische Camino Francés schwer erträglich. Er laufe am Tag nie weniger als vierzig Kilometer, erzählte er, nur um es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Und mit den Piefkes, die hier alles so schön und aufregend finden, rede er lieber gar nicht. Meine Rede doch. Es tut immer gut, eigene Vorurteile mit anderen zu teilen. Da es hier eine Pilgermesse gab, gingen wir natürlich hin. Alte Pilgerprofis, katholisch bis zur Sohle. Wir brachen zeitig auf und nahmen noch Rachel, eine junge Frau aus P u erto Rico mit. Ich beobachtete sie schon seit Tagen, wenn ich sie zufällig traf. Sie war sehr hübsch, ein echter Blickfang, doch auch eine gewachsene Persö n lichkeit. So redete sie nicht viel, doch mit Bedacht, und sie wußte sehr tüchtig zu marschieren. Drei veritable Eigenschaften, mit denen sich nicht ein jeder schmücken konnte. Aber darum ging es hier nicht. Wir waren einfach nur drei Pilger nach einem anstrengenden Marsch, die es zur Messe zog.
Die Kirche von Barbadelo ist uralt, aus großen verwitterten Quadern zusa m mengefügt und wie eingemauert von schiefen Grabsteinen des engen Friedhofs rundherum. Alles voll hier seit langer Zeit. Um die Ruhe der Toten von damals nicht zu stören, baute man für die Toten von heute an der Mauer kleine, überei n ander liegende Betonnischen. Nicht so romantisch. Aber ich sah nur diese alten schiefen Grabsteine. "Gepriesen sei der Mann, der diese Steine schont, und ve r flucht sei der, der meine Knochen bewegt," ließ William Shakespeare auf sein Grab meißeln. Diese Toten hier könnten am jüngsten Tag noch aus ihren Gr ä bern steigen und weiterleben. Wer aber werde meine Ruhestätte schonen, wenn keiner mehr da ist, der bezahlt? Wird man nicht auferstehen? Die Heilige Schrift wörtlich zu nehmen, hatte so seine Risiken. Was war denn wörtlich und was weniger wörtlich zu nehmen? Alles allezeit kontrovers, voller Widersprüche, weshalb früher die katholische Kirche die Bibellektüre auch nie forderte und b e stenfalls unter geistiger Anleitung empfahl. Sonst nähme man sich, was paßt, ließe Unnützes, Schädliches, Verwirrendes weg, und sei sich selbst der Prophet. Je größer das Wissen,
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