Bis ans Ende der Welt (German Edition)
einen düster romantischen Eindruck, und ich bedauerte sehr, auf dem Schiff bleiben zu müssen, während die Schulklassen mit Getöse ans Land gingen. Der Pilger ist ja kein Tourist, es treibt ihn immer weiter, immer weiter fließt der Fluß.
Genf war mir ein wichtiges Etappenziel. Nicht nur wegen der Erholungspause. Es war auch so etwas wie ein Sprungbrett nach Frankreich, die allerletzte Stat i on in der Schweiz, und nicht zuletzt der letzte Ort, wo man sich noch auf Deutsch verständigen konnte. Das sah das junge Fräulein in der Jugendherberge auch so. Es freute sich, wieder einmal in der Muttersprache zu reden, und rec h nete den etwas geringeren Preis eines Jugendherbergsmitglieds, obwohl ich doch keinen Ausweis hatte. Der ruhte ja dank der Fürsorge der Deutschen Post sanft in Leipzig. Sie stamme aus Flüeli Ranft, erzählte sie fröhlich. „Wo die Schlucht ist, da sind Sie doch bestimmt durch.“ Ich bejahte enthusiastisch, und wir fre u ten uns aufrichtig, soviel Gemeinsames zu haben. Die Herberge lag unweit der Uferpromenade, von der Schiffsanlegestelle hatte ich nicht weit zu laufen, und alles, was ich unterwegs sah gefiel mir. Einschließlich des Fräuleins aus Flüeli Ranft.
Natürlich war auch diese ansonsten sehr ordentliche Herberge nur ein herzbr e chendes Massenlager, bevölkert von den allermerkwürdigsten Typen. Draußen vor dem Haus trieben sich gelangweilt kleine Gruppen herum, als ob es in Genf sonst nichts zu tun gäbe, drinnen im Aufenthaltsraum hingen andere, schwei g sam gewichtig auf den Bildschirm starrend, am Internet. Große Langweile mischte sich mit triebhafter Geschäftlichkeit. Das schreckliche Backpacker’s Hotel in Interlaken lastete noch an meiner Erinnerung. Aber eine passendere A l ternative für die zwei letzten Nächte in der Schweiz sah ich nicht. Zunächst aber tat das Schicksal unschuldig. Ich bezog als einziger ein blitzblanksauberes Achtbettzimmer, suchte mir das aus meiner Sicht beste und sicherste Bett und erledigte die Wäsche mit Hilfe einer Waschmaschine. Dann suchte ich mir ein Geschäft, kaufte etwas zu essen und zu trinken und genoß das wohlverdiente Abendmahl in einem Park am Seeufer. Der Jet d’au , das Wahrzeichen von Genf, blies dazu ordentlich einen Wasserstrahl hundertvierzig Meter hoch in die Luft. Und das war auch gut so, weil es am nächsten Tag wohl einen Rohrbruch gab, und das Ding rührte sich nicht mehr. Hunderte Spaziergänger flanierten vorbei, die ich ungeniert beobachten konnte. Eine Lieblingsbeschäftigung von mir. Um so besser, daß es ein sehr bunter Haufen war. Fast jeder zweiter Bürger von Genf sei ein Ausländer, stand im Führer. Mindestens. Es kamen ja noch die vi e len Touristen hinzu. Alle Sprachen der Welt zwitscherten durch die Zweige. Ein kosmopolitischer Mischmasch. Niemand kümmerte sich um mich, niemand nahm Anstoß an mir - oder einem anderen. Es sah so aus, als ob keiner der A n wesenden überhaupt merken würde, ließe man die anderen Menschen einfach verschwinden. Er würde dann weiter an seiner Melone essen, seine Kinder z u rechtweisen oder sein Fahrrad fahren. Er würde nicht einmal mit der Wimper zucken. Er war die Nabel der Welt, die Welt in sich, völlig autark, bestens pl a ziert, absolut da zu Hause. Ich stellte mir es bildlich vor und saß so einen A u genblick ganz allein in dem verlassenen Park auf der Bank. Die Blätter rasche l ten in der Brise, in der Ferne zuckte mit Wucht der Wasserstrahl aus dem See empor gegen den blassen Himmel, ein Eichhörnchen holte sich blitzschnell eine liegengebliebene Nuß und verschwand wieder in der Baumkrone. Ich hatte e i gentlich keine Angst, der letzte Mensch in Genf zu sein, aber ich hielt dennoch an. Es hätte ein Engel mit einem seltsamen Auftrag vorbeikommen können. Sie suchen sich immer solche Momente.
Wieder zurück auf meinem Achtbettzimmer stellte ich fest, immer noch der ei n zige Schlafgast zu sein. Es war schon nach acht Uhr, und es war keine Sinne s täuschung oder ein fauler Zauber wie im Park etwa. Ich faßte Hoffnung auf eine ruhige Nacht, doch traute ich der Sache immer noch nicht und las lieber noch in der kleinen Bibel, die ich mit auf die Reise nahm. Neun Uhr und immer noch niemand. Also ging ich zu Bett, jetzt konnte keiner mehr kommen. Einschlafen war kein Problem. Ich entwickelte im Krankenhaus, als ich mich wochenlang nicht frei rühren konnte, ein System. Dazu schichte ich den Rumpf gerade auf den Rücken, ordne die Glieder so, daß sie während
Weitere Kostenlose Bücher