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Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Titel: Bis ans Ende der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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fach da und genoß die Urlaubsstimmung. Ich werde ja nicht so schnell wiede r kommen, dachte ich mir zur Ausrede. Als bescheidener, netter Zeitgenosse, der ich vielleicht gar nicht bin, wurde ich schließlich von einer ortsansässigen Kra n kenschwester angesprochen und zum Kaffee eingeladen. Es schien mir fast, sie wäre enttäuscht gewesen, hätte ich abgelehnt. Wochen später schickte sie mir per SMS noch eine spanische Adresse, wo man frei übernachten konnte. Wo blieben da meine Vorurteile?
    Oft wandert man tagelang über Berge und Täler einsam und beschaulich, als ob man der letzte noch übrig gebliebene Mensch auf Erden wäre. Dann aber plöt z lich steckt man wieder im regen Austausch. An Stab und Muschel ist man ja sichtbar und als Pilger leicht zu erkennen. Man grüßt alle und jeden auf dem Weg, auch in den großen Städten und oft mit verblüffender Wirkung. Man ist je eine Art weiße Krähe. Es ist auch statthaft, fremde Menschen anzureden, ein Schwätzchen zu halten und sich Mut zusprechen zu lassen. Wenn einem danach ist. Es gab die Einheimischen, meist von der netten, sympathischen Art, gutm ü tige, redselige oder auch nur neugierige Menschen. Viele waren selbst auch schon ein Stück auf dem Camino unterwegs, oder kannten jemanden, der es tat, und mochten es auch einmal tun. Es mutete wie eine unerfühlte Sehnsucht an, wie ein lichter, freundlicher Raum, der da irgendwo wartet, bis man ihn eines Tages betritt. Da fühlte man sich gleich ein wenig besser, vergaß die Strapazen im Gespräch. Angeblich pilgerten lauter Deutsche, erzählte man hier in der fra n zösischen katholischen Schweiz. Ein rätselhaftes Phänomen. Es blieb ungesagt, ob nur Reichsdeutsche oder damit auch Österreicher und die deutschsprachigen Schweizer Bundgenossen gemeint waren. Aber da war was dran. Alle Pilger, die ich bis dahin traf, waren der Sprache nach deutsch. Auch wenn es vorläufig nicht viele waren. Manchmal waren sie etwas sperrig und kompliziert, hatten vielleicht auch eine Last im Leben zu tragen. Menschliche Begegnungen sind, so schließe ich aus Erfahrung, ein wesentlicher Teil des Unterwegsseins auf dem Camino. Sie sind nachhaltiger als im Alltag. Noch lange Zeit später erinnert man sich des Anderen, dem man ja nur zufällig kurz begegnete, mit einem Gefühl, einer Intensität, als ob man direkt vor ihm stünde. Man hört die Stimme, die G e schichte, die er erzählte, und spricht erneut die Fürbitte, um die man gebeten wurde, wenn man Santiago erreiche. Auf über dreitausend Kilometern kommt so ein großer Haufen zusammen, den man mitträgt, mitleidet. Einer trage des a n deren Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen . [23] Eine Parallele zum menschlichen Lebensweg tut sich im Camino auf. Man kommt und geht, trifft und scheidet, nimmt und gibt, nichts wissend, bestenfalls ahnend, bis man eines Tages ankommt und alles ganz anders wird, als man dachte beziehungsweise auch nicht dachte.
    Ich bestieg das Schiff mit freudiger Erwartung eines Kindes. Zu Tränen gerührt war ich über diese Pilgerreise und die atemraubende Gottesschöpfung um mich herum. Sogar das Trampeln der Passagiere, ihre emsige Suche nach dem besten Platz, das ameisenhafte Treiben der mitreisenden Schulklassen machte mir Freude. Das Schiff war wieder ein alter Schaufelraddampfer, aber sobald es a b legte, lief es gleich rasend schnell. Oder es kam mir nur so vor, weil ich schon zu lange nur im Tempo eines Lastenträgers durch die Landschaft schlich. Mein Kopf drehte sich, wenn ich nur auf das rückwärts fliegende Wasser sah. Der Blick zum Ufer war da schon sicherer, und ich stellte auch fest, daß der Genfer See vom Schiff aus viel interessanter ist als vom Land. Natürlich ging es auch hier nicht einfach dorthin, wohin ich wollte. Erst wurde Hermance am gegen ü berliegenden südlichen Seeufer angesteuert. Frankreich umzingelt hier Genf von drei Seiten, ist wörtlich nur ein paar Schritte entfernt. Nur ein schmaler Ufe r streifen und der Wasserweg sichern die Verbindung. Im zweiten Weltkrieg tr a fen sich hier an der Grenze zwischen der formal zwar neutralen, doch gar nicht so unbeteiligten und unbefleckten Schweiz und dem besetzten Frankreich Polit i ker, Agenten und Spekulanten beider Kriegslager, um ihr mieses Gewerbe zu betreiben. Bereits im Mittelalter nutzten die Savoyen Hermance als Stützpunkt gegen die Genfer Herrschaft und umgekehrt. Eine hochrangig geschichtsträcht i ge Ecke also. Der kleine Ort machte auf mich auch

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