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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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Kontrabassist, und ich waren die einzigen beiden Neger in der Gruppe. Ausnahmslos in jedem Restaurant mussten Herschel und ich in der Küche essen.«
    Pearl griff nach ihrem Glas und trank einen großen Schluck Wein.
    James sprach zwar leise weiter, in seiner Stimme lag nun allerdings ein ärgerlicher, beinahe drohender Ton. »Eine Unterbringung in einem ordentlichen Hotel konntest du glatt vergessen. Neger waren dort nicht erwünscht. Manchmal fanden Herschel und ich eine Unterkunft bei einer schwarzen Familie. Mehrmals, vor allem in Georgia, mussten wir nach der Vorstellung hinter der Bühne schlafen. Wenn wir in eine neue Stadt kamen und der Clubbesitzer merkte, dass zwei Neger zu der Band gehörten, wurde manchmal einfach der Vertrag annulliert, natürlich ohne ein Honorar zu bezahlen.«
    Sie wollte etwas sagen, um ihre Wut und Empörung kundzutun, aber er ließ sie gar nicht zu Wort kommen.
    »Den schlimmsten Vorfall haben wir in einem texanischen Kaff erlebt«, fuhr er fort, »wo uns der Sheriff mit vorgehaltener Schusswaffe von der Bühne vertrieben hat. Wir mussten Hals über Kopf aus dem Saal und zurück zum Bahnhof flüchten, wo er dann doch noch jedem von uns eine Kugel verpasste.« Mittlerweile hatte James die Augenlider halb geschlossen, als könnte er dadurch das Hochkommen all dieser schmerzvollen Erinnerungen unterdrücken.
    Pearl spürte, wie sie rot im Gesicht wurde, und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Sie schämte sich ihrer Naivität. James hatte in seinem jungen Leben bereits mehr Elend, Furcht und Demütigung erlitten, als sie sich überhaupt vorstellen konnte, ganz zu schweigen davon, dass sie es sicher nicht hätte ertragen können. Den eigenen Großvater auf diese Weise verlieren zu müssen und dann auch noch selbst des Öfteren dieser Art Drangsal ausgesetzt zu sein … Bei der Frage, warum er nicht Arm in Arm mit ihr durch die Straßen der Stadt schlenderte oder warum er sich weigerte, sie in der Öffentlichkeit zu küssen, hatte sie nur an sich selbst gedacht.
    Sie streckte den Arm über den Tisch aus und legte ihre Hand auf seine. »Entschuldige bitte«, murmelte sie. »All das tut mir wirklich so leid, James.«
    Er antwortete nichts darauf, sondern zog nur seine Hand weg und wühlte in der Hosentasche. Von dort zog er eine zerknitterte Pfundnote hervor, warf sie auf den Tisch und brummte: »Auf jetzt. Lass uns gehen.«
    Pearl brachte das Thema nie wieder zur Sprache. Er war ein komplizierter Charakter mit einer Vergangenheit, deren Bedeutung sie nie ganz würde erfassen können. Stattdessen sprachen sie über Musik: mixolydische Tonleitern und perfekte Quarten.
    Derartige Lektionen fand Pearl viel aufregender als Achterbahnfahren, besonders wenn James dabei von hinten die Arme um sie legte, seine Finger auf ihre Hände legte und dadurch die Klappen des Saxofons bediente. Daraus entwickelte sich sozusagen eine Art musikalisches Vorspiel. Dann verkrochen sie sich in einen stillen Teil des Parks und liebten sich hinter einem dichten Schleier von herabhängendem Jasmin oder auf einem taufeuchten Polster aus Farn. Indem seine Finger ihre Bahnen auf und in ihrem Körper zogen, gewannen all seine Bemerkungen über Harmonik, Ziernoten und Tonleitern eine ganz eigene Dimension und flossen zu einem einzigen kribbelnden Gefühl zusammen, das sie von oben bis unten durchfloss.
    Hin und wieder hörten sie sich Import-Schallplatten in Palings Musikladen an, und dabei erklärte er ihr, warum die Streicher einer Band so und nicht anders arrangiert waren, oder er zeigte ihr, wie Ben Webster seinen zart-rauchigen und gleichzeitig flauschigen Ton auf dem Tenorsaxofon zustande brachte. Er erklärte ihr, wie Glenn Miller das Riff von In the Mood von einer alten Fletcher-Henderson-Melodie abkupferte oder wie Charlie Barnet sein Cherokee auf der Fahrt ins Aufnahmestudio in seinem Wagen arrangierte.
    Er versuchte ihr beizubringen, konventionelle Melodien mit dem Rhythmus von Latinosongs zu spielen. Manchmal fand sie es einfach zu schwierig, mit den vertrackten Gedankensprüngen seiner Lektionen und Instruktionen Schritt zu halten. Dann ließ sie sich aufs Gras zurücksinken und wunderte sich darüber, wie entspannt und gleichzeitig lebendig seine Miene und seine Glieder wirkten, wenn er seine Vorträge hielt. Als er einmal eine Passage aus St. Louis Blues vorspielte, fassten sich einige Kinder, die in einiger Entfernung vorbeischlenderten, an den Händen und tanzten auf dem Rasen herum, während die

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