Bis ans Ende des Horizonts
erklären würde?
»Jawohl, jeden Abend«, fuhr er fort. »Auf der Veranda vor dem Haus. Sie zeigte mir den Mars. Den Hundsstern … den Polarstern.«
Er hielt inne und nippte wieder an seinem Glas. Sie hatte eine ganze Reihe von Fragen an ihn auf dem Herzen, doch sie hatte das Gefühl, dass es jetzt besser war zu schweigen.
Er sprach weiter. »Eines Abends stand sie auf und zeichnete mit dem Finger die Umrisse des Großen Wagens nach. Gerade als sie den obersten Punkt der Deichsel erreicht hatte, fing sie plötzlich schrecklich an zu husten und krümmte sich zusammen.«
Pearl bemerkte, wie ihm wieder der Atem stockte. Sie legte ihre Hand auf seine. »Meine Güte, so schnell ich konnte rannte ich zum Nachbarn hinüber«, brachte er stockend hervor, »aber als dann endlich der Doktor kam …«
Er ließ den Kopf sinken und atmete tief ein. Sie drückte seine Hand und spürte, wie auch ihr die Tränen in die Augen traten. »Wie alt war sie?«
Sie merkte, wie ein Zittern durch seinen ganzen Körper lief. »Achtunddreißig«, murmelte er, »ein Herzinfarkt mit achtunddreißig.«
Er stellte sein Glas auf den Boden und legte sich auf das Bett, wobei er ihr den Rücken zuwandte. Pearl hätte ihn am liebsten sofort fest umarmt, um ihm seinen Kummer zu nehmen, da sie jedoch selbst noch nie einen Menschen, der ihr nahestand, verloren hatte, vor allem niemanden aus der engsten Familie, war sie sich nicht sicher, wie sie James wirklich trösten könnte und ob er in diesem Moment überhaupt Mitleid wollte.
Schließlich entspannten sich seine Glieder, und er schlief, noch völlig angezogen in seiner Uniform, auf die Kissen gebettet ein. Sie ließ sich neben ihm auf das Bett nieder, betrachtete seine langen Wimpern, seinen kindhaften Schmollmund, die zarten Spuren der Tränen auf seinen Wangen und wie sich seine Brust beim Atmen hob und senkte. Mit einem Mal konnte sie in diesem Anblick auch den kleinen, tieftraurigen Jungen erkennen, der sich nach seiner Mutter sehnte, den äußerlich kühlen, aber sehr verletzlichen Jugendlichen, den zielstrebigen, fast schon hartgesottenen Musiker, der sich durch nichts und niemanden beirren ließ. Und während sie seinen Schlaf bewachte, wurde sie sich vollends darüber im Klaren, wie sehr, wie hoffnungslos sie sich verliebt hatte, nämlich in einen Mann, den sie bewunderte, allerdings so gut wie nicht kannte.
6
Es war ein Samstagabend während der letzten Pause, bevor die Vorstellung im Trocadero zum Finale ansetzte, als Pearl sich – ganz berauscht von ihrer Liebe – Nora Barnes anvertraute. Sie standen neben dem Wasserspender und beobachteten die Bühne, wo die achtzehnköpfige Big Band der Männer spielte. Pearl, die Brandy aus einem Flakon trank, erklärte bereits ein wenig beschwipst: »Ich liebe ihn mehr als alles auf der Welt.« Sie reichte Nora den Flakon. »Aber ich habe keine Ahnung, ob es für uns eine gemeinsame Zukunft gibt.«
Nora trank einen Schluck aus dem Fläschchen. »Er liebt dich doch auch, oder?« Sie gab ihrer Freundin den Flakon zurück. Pearl genehmigte sich noch einen Schluck und dachte über die Antwort nach.
»Was er besonders mag, ist dieses gemeinsame Ehespiel in der Nacht«, erklärte sie. »Wenn wir in der Villa sind. Da bin ich mir sicher.« Bei ihr fing sich im Kopf alles ein bisschen zu drehen an, und mit einem Mal kam es ihr so vor, als ob die Musik immer lauter würde. »Aber draußen in der Öffentlichkeit – wie soll ich es sagen? – scheint er ein ganz anderer Mensch zu sein. Da wirkt er ruhiger, verstehst du? Außerdem verhält er sich dann so, als seien wir gar kein Paar.«
»Na, komm schon, Pearl«, sagte Nora, »das solltest du nicht überbewerten. Schließlich ist er in einem fremden Land; hier herrschen vielleicht andere Sitten.« Nora griff noch einmal nach dem Brandy und leerte den Flakon. »Und außerdem hat er sich in ein merkwürdiges australisches Mädchen verguckt, das auch noch eine höchst merkwürdige Freundin hat!« Sie stieß deutlich hörbar auf, und Pearl brach in lautes Gelächter aus.
Deren Bruder hingegen war nicht so verständnisvoll und mitfühlend. Roma hatte von einem Tag auf den anderen ihre Sachen gepackt und war nach Dubbo geflüchtet. Zurück blieb ein äußerst niedergeschlagener und zunehmend betrunkener Martin, der sich weigerte, mit irgendjemandem über diesen plötzlichen Aufbruch zu sprechen. James berichtete von Gerüchten aus dem Booker T. Washington Club, denen zufolge Roma schwanger geworden war.
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