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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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war sich sicher, dass er nicht ewig dauern würde. Inzwischen waren es fast drei Jahre her, seit Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatte. Sie schätzte, dass es damit noch ein halbes Jahr so weitergehen würde; so lange konnte sie es noch abwarten. Außerdem würde sie ohnehin so viel Zeit benötigen, um all das in sich aufzunehmen und umzusetzen, was er ihr beibringen wollte, damit sie genauso gut spielen konnte wie er.
    Ganz am Anfang, in den ersten Wochen ihrer Lehrzeit, musste sich Pearl auf James’ Anweisung nur auf eines konzentrieren: Sie sollte auf ihrem Instrument vier Stunden am Tag das Spielen langer Töne üben. Das diente dazu, ihre Atemtechnik zu verbessern sowie Tonhöhe und Klangfarbe zu kontrollieren. Während die Sonne ihre Bahn am Himmel zog und die Schatten langsam über den Zugang zum Haus und über den Garten wanderten, stand Pearl auf dem Balkon ihres Schlafzimmers und spielte eine lang gehaltene Note immer wieder und wieder. Das Gebell der Hunde ging in eine Art Wolfsgeheul über; die Nachbarn beschwerten sich, sodass sie von ihrer Mutter in den Luftschutzraum im Keller verbannt wurde.
    Als James befand, dass sie so weit war, bat er sie während ihrer sechsten Lektion im Botanischen Garten, hintereinander alle Dur-Tonleitern und deren Dreiklänge zu spielen. Das erwies sich als eine an- und abschwellende, auf- und niedergehende Folge von Tönen. Wenn sie mit dem Atem den richtigen Ton traf, war ihr Fingersatz unzulänglich, und wenn die Fingertechnik korrekt war, war der Ansatz mangelhaft. Beides schien sich nie in Übereinklang bringen zu lassen, worüber sie sich zunehmend ärgerte.
    Daher stellte James ihr erneut die Aufgabe, Moll-, Dur- und Blues-Tonleitern und die dazugehörigen Dreiklänge in langen, langsamen Tönen getrennt zu üben. Dies waren ausgesprochen eintönige Übungen; statt sich in Gedanken auf d en nächsten Akkordwechsel vorzubereiten, kreisten ihre Ge danken daher hin und wieder um ihn, ihre Gespräche und all das, was er ihr bei ihren Gesprächen erzählt hatte, wenn sie unter Palmen spazieren gegangen waren oder Milchshakes unten am Circular Quay geschlürft hatten.
    Ein Punkt im Umgang mit James beschäftigte sie dabei ganz besonders. Als sie eines Abends noch spät im Arabischen Café saßen und Karten spielten, brachte sie ihn endlich zur Sprache.
    »Wie kommt es eigentlich, wenn wir zusammen ausgehen, dass du nicht … niemals …« Eigentlich sollte es ganz beiläufig klingen, aber ihre Stimme klang viel zu hoch und angespannt. Sie holte noch einmal tief Luft. »Wie kommt es, dass du mich überhaupt nicht mehr anfasst oder berührst in letzter Zeit? Du hältst nicht einmal mehr meine Hand.«
    James runzelte die Stirn und ordnete die Karten in seiner Hand neu. Der Barpianist improvisierte My Blue Heaven mit einer Unmenge Verzierungen und Kadenzen und stieß dabei gelegentlich mit seinem Holzbein den Takt auf dem Boden.
    »Nun?«, beharrte sie.
    James seufzte auf und legte seine Karten verdeckt auf den Tisch. Er sah ihr mit festem Blick direkt in die Augen, nur seine rechte Augenbraue zuckte ein wenig.
    »Liebling, da, wo ich herkomme, würde ein weißes Mädchen niemals einen Typen wie mich zu sich nach Hause einladen, und vor allem würde es ihn nicht seinen Eltern vorstellen.«
    »Und wieso nicht?«, fragte sie. »Könnten sie nicht ganz einfach Freunde sein?«
    Plötzlich blitzte es in James’ Augen auf. »Habe ich dir jemals erzählt, dass mein Großvater an einem Baum im Stadtpark von Bogalusa City aufgeknüpft wurde?«
    Pearl war zu schockiert, um etwas erwidern zu können. Er begann, eine Faust zusammenzuballen und wieder zu entspannen, so wie ein Boxer, der sich für einen Kampf aufwärmt.
    Schließlich stellte sie die Frage: »Warum?«
    Ein betrunkener Mann kam von der Toilette und musste sich am Klavier festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    James seufzte. Er lehnte sich über den Tisch zu ihr hinüber. »Weil er auf der Straße einer jungen Weißen nachgepfiffen hat.«
    Pearl starrte ihn entsetzt an. Was er ihr da gerade gesagt hatte, kam ihr ganz unglaublich vor. Wo blieben da Polizei und Justiz? Gab es kein ordentliches Rechtssystem?
    James verzog das Gesicht, als hätte er gerade auf etwas Saures oder Bitteres gebissen. Er trank einen Schluck Wasser, behielt das Glas in beiden Händen und betrachtete es angelegentlich. »Meine letzte Tournee in den Südstaaten machte ich in der Band von Benny Goodman. Herschel Evans, der

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