Bis ans Ende des Horizonts
griff danach, und James entzündete den Docht. Mit dem Licht in der Hand führte sie ihn in ein benachbartes Esszimmer, wo ein riesiger ovaler Tisch für acht Personen gedeckt war, mittlerweile natürlich dick mit Staub bedeckt; anscheinend hatten sich die Schwestern gerade zu einem Festessen niederlassen wollen, als die Entscheidung zur Flucht fiel.
Im Obergeschoss lag ein aufgeschlagenes Buch auf einem Tisch, vertrocknete Blumen standen noch in Vasen, ein halb vollendetes Bild von einer Landschaft stand auf der Staffelei. Schränke und Schubladen waren angefüllt mit langen Kleidern, Pelzmänteln und Stolen. In einem der Schlafzimmer am Ende des Ganges lief noch immer leise ein Radio mit klassischer Musik, die Pearl aber nicht kannte. Die ganze Atmosphäre war sowohl schauerlich als auch sehr aufregend; wie zwei Geister bewegten sich Pearl und James durch das verlassene Haus.
Pearl setzte die Kerze ab. Sie zog einen der muffigen Pelzmäntel über und tanzte durch den Raum, die Arme geöffnet, als würde sie von einem Walzertänzer gehalten. Während sie dicht an James vorbeiglitt, griff er nach ihr und drückte sie sanft auf die Matratze des Himmelbetts. Hier, auf der Tagesdecke aus Satin, liebten sie sich bis zum frühen Morgen.
So wurde die viktorianische Villa ihr Liebesnest, ein Ort, wo sie sich wie ein ganz normales Paar zu Hause fühlen konnten. Die Speisekammer war gut gefüllt mit Eingemachtem und Konserven aller Art; der Weinkeller war gut bestückt mit staubbedeckten Weinflaschen; das Grammofon funktionierte noch, und in einem Regal fand sich eine eindrucksvolle Sammlung von 78er-Schallplatten mit klassischer Musik: Beethoven, Brahms, Bach und sogar Strawinsky.
Sie fühlten sich in dem verlassenen und ein wenig verfallen wirkenden Haus so wohl, dass James eines Tages auf den Speicher kroch und eine undichte Stelle im Dach reparierte. Und als Pearl bemerkte, dass sich auf den Küchenwänden Schimmel breitmachte, schrubbte sie ihn mit Essig und Backsoda weg. James reparierte ein kaputtes Rohr in der Waschküche, und gemeinsam staubten sie die antiken Möbel ab, bürsteten die Spinnweben aus den Ecken und platzierten Mottenkugeln in den modrig riechenden Kleiderschränken. Sie leerten sogar die Post, die sich im Briefkasten am Eingangstor angesammelt hatte, und stapelten sie auf einem Beistelltisch in der Eingangshalle.
Spätabends speisten sie von Porzellantellern, tranken Merlot aus Kristallgläsern und setzten sich zum Kartenspiel in einen der rückwärtig gelegenen Salons, alles im milden Schein von Kerzenlicht. Im Badezimmer versanken sie gemeinsam von Kopf bis Fuß in einer riesigen altmodischen Wanne und massierten sich gegenseitig die Füße. Bei jedem ihrer Aufenthalte in dem großen alten Haus übernachteten sie in einem anderen Gemach, angefangen bei der Dienstbotenkammer im Erdgeschoss bis zum achten Schlafzimmer, das sich hoch oben im dritten Stock in dem Erker befand. Ihrer Mutter erzählte Pearl, dass sie bei Nora Barnes übernachtete.
Eines späten Abends, als sie von dem schmalen hohen Bett im Erkerzimmer aus Wein schlürfend durch das Fenster auf den klaren Nachthimmel blickten, zeigte Pearl mit dem Finger auf die Venus und das Kreuz des Südens und deutete die Umrisse des Sternbilds des Schützen an. James wurde beim Anblick des Firmaments ganz still – sogar so still, dass er auf eine beiläufige Frage von ihr nur mit einer Art Schluckauf antwortete.
Darauf wandte sie sich zu ihm hin und bemerkte im Schimmer des Kerzenlichts aus den Augenwinkeln, dass er mit den Tränen kämpfte. Zunächst dachte Pearl, dass ihm etwas wehtat, daher stellte sie ihr Glas ab und wollte ihn in die Arme nehmen. Doch er zuckte zusammen, und sie ließ von ihm ab. Einige Augenblicke lang saßen sie stumm nebeneinander, den Blick auf die Sterne gerichtet, und James wischte sich ab und zu über die Augen. Schließlich ging er ins Badezimmer, und sie hörte, wie der Wasserhahn lief. Es kam ihr ziemlich lange vor, bis er wieder zurückkam. Seine Augen waren geschwollen, und er schenkte ihnen beiden ein neues Glas Wein ein. Dann setzte er sich wieder neben sie.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
Der obere Rand des Glases stieß hörbar an seine Zähne, als er es zu einem kräftigen Schluck ansetzte. »Meine Mama hat das auch immer gemacht. Jeden Abend.«
Pearl konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, wovon er gerade sprach. Von dem Wein? Von irgendeinem Familienritual, das er ihr vielleicht gleich
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