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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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der Haut herumzulaufen. Die liebestrunkene Freundin hatte ihr diesen Gedanken eingegeben: Pookie und sie hatten sich ineinander verliebt, und nun ging Nora mit dem Duft des würzigen Aftershaves ihres Liebhabers zur Arbeit. Zu Pearls Überraschung vergingen zwischen jenem ersten stürmischen Zusammentreffen der beiden mit dem anschließenden Beginn ihrer Beziehung nur wenige Wochen, bis Nora ihr berichtete, dass sie beide aufhören wollten, im Trocadero zu arbeiten. Pookies Vater war erst kürzlich gestorben, sodass er einen größeren Besitz in den Blue Mountains geerbt hatte, und das Paar hatte nun vor, dorthin zu ziehen.
    Wenn Pearl nicht im Trocadero spielte oder sich heimlich mit James traf, dann blieb sie in Potts Point meistens im Keller des Hauses, wo sie die Lektionen übte, die er ihr beibrachte. Swingrhythmen überschwemmten das Haus wie eine Flutwelle, und die ständige Wiederholung der gleichen Tonfolgen trieb ihre Mutter und ihren Vater an den Rand des Wahnsinns. Martin wäre es sicherlich genauso ergangen, aber er war in jener Zeit selten zu Hause, da er ja zum Arbeitseinsatz zwangsverpflichtet worden war.
    Allmählich verbesserte sich Pearls Tonansatz, und nachdem sie wochenlang darum gebeten und gebettelt hatte, willigte James ein, ihr nun auch Harmonielehre und Improvisieren beizubringen.
    »Aber dazu brauchen wir ein Klavier«, sagte er.
    Bei ihr zu Hause gab es ein Klavier, doch Pearl war sich sicher, dass er sich weigern würde, noch einmal dorthin zu gehen. Sie dachte eine Weile darüber nach, dann führte sie ihn von ihrem üblichen Treffpunkt beim Rosengarten im Park durch die schmiedeeisernen Tore hinüber zum Konservatorium, wo sie bereits als Kind Unterricht bekommen hatte. Sie strichen durch die Gänge, bis sie einen leeren Übungsraum im zweiten Stock fanden. James setzte sich an den Flügel und spielte eine Reihe von Akkordwechseln zu einer Melodie, die aus Cherokee stammte, wie Pearl bald erkannte. Als er ihr sagte, sie solle das mitspielen, hob sie ihr Instrument an die Lippen und fiel ein. Sie hatte diese Melodie schon sehr oft im Trocadero gespielt, und als er ihr mit einem Nicken zu verstehen gab, dass sie nun ein Solo spielen sollte, blies sie die Melodie mit einigen kleineren Auszierungen aus einer Aufnahme von Johnny Hodges, an die sie sich Note für Note erinnerte. Am Ende des Refrains gab er ihr mit einem Wink zu verstehen, sie solle innehalten.
    Sie fragte ihn, ob ihr Tonansatz zu schwach sei. Das beantwortete er kaum mit einem Stirnrunzeln. Ob das Tempo zu schleppend gewesen sei? Er schnaubte und schüttelte den Kopf.
    »Gab es keine Betonungen?«
    James seufzte auf und schwang sich auf dem Klavierstuhl wieder so, dass er vor den Tasten saß. »In Ordnung, hör einfach zu.«
    Er spielte die Melodie von vorn. Sie stand neben dem Flügel und beobachtete, wie seine Finger über die Tasten tanzten. Nach dem zweiten Refrain begann er mit der rechten Hand jeden Akkord fast über die ganze Bandbreite zu improvisieren, sodass sie ständig meinte, er würde aus der Tonart fallen, aber irgendwie war das doch nicht der Fall. Gelegentlich erkannte sie Phrasen und Arpeggien, die sich wiederholten oder umgekehrt in etwas anderen Tonarten wiederkehrten. Gerade in dem Moment, wenn sie den Eindruck hatte, dass das ganze harmonische Gerüst gleich zusammenbrechen müsste, fand er mühelos zu dem Refrain zurück, ohne auch nur eine falsche Note gespielt oder einen Taktfehler begangen zu haben.
    »Wie hast du das nur gemacht?« Sie legte eine Hand auf seine Schulter.
    James erklärte ihr, dass sie ein Solo jedes Mal auf exakt die gleiche Weise spielte.
    Sie runzelte die Stirn, weil sie nicht verstand, worauf er hinauswollte.
    »Du musst erst noch lernen zu improvisieren«, sagte er. »Dazu musst du auch ein paar Risiken eingehen. Wenn du immer nur die gleichen Noten und ein paar kleine Variationen und Verzierungen spielst, gehst du natürlich kein Risiko ein. So wie du spielst, das erinnert mich an einen alten Mann, der jeden Morgen aufsteht und zur Arbeit geht, immer auf die gleiche Weise, mit gesenktem Kopf, ohne irgendetwas Neues zu hören oder zu sehen. Willst du dein ganzes Leben so verbringen?«
    Pearl wurde verlegen, aber sie beharrte darauf, dass sie immer wieder etwas Neues ausprobierte.
    Er sah ihr fest in die Augen. »Und das wäre?«
    »Etwas Neues eben … So wie dich.«
    »Ich bin doch keine Melodie, Pearl.«
    »Nein, aber du bist ein Risiko.«
    Er drehte sich auf dem Stuhl um.

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