Bis ans Ende des Horizonts
ganz elend zumute. Beim A bschied umarmte sie ihn fest und konnte seine Rippen durch sein Jackett spüren. Es war erst das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie für längere Zeit voneinander getrennt sein würden. Als Clara mit Pearl vor Jahren in Ceylon auf Tournee war, war es schon einmal so gewesen.
Unmittelbar bevor er das Haus verließ, schenkte Pearl ihm eines von den kostbaren Rohrblättern für sein Saxofon, das sie von James bekommen hatte.
»Hab tausend Dank, Schwesterherz«, sagte er mit einer Verbeugung und einem Handkuss. »Jedes Mal, wenn ich damit spiele, werde ich an dich denken.«
Sie hätte ihm zum Abschied gerne noch eine witzige Replik mit auf den Weg gegeben, aber sie war zu befangen. Stumm sah sie zu, wie er seinen Rucksack schulterte, noch einmal am Gartentor innehielt und der ganzen Familie salutierte und dann die Straße entlangmarschierte, als wäre er bereits ein Soldat.
Anschließend zog sich Pearl, noch immer im Pyjama, in den Luftschutzraum im Keller zurück, um zu üben. Bereits jetzt vermisste sie Martin. Nora war auch nicht mehr da. An diesem Vormittag hatte sie einen zweifachen Verlust zu verkraften, und das tat sie auf die einzige Art und Weise, in der sie ihren Gefühlen umfassend Ausdruck verleihen konnte: indem sie aus tiefster Seele musizierte.
Seit ihrem Streit in dem Konservatorium hatte Pearl nichts mehr von James gehört, doch um zehn Uhr an diesem Vormittag sollte eigentlich, wie üblich, die wöchentliche Übungsstunde beim Rosenbeet stattfinden. Sie ging davon aus, dass er sich wie gewohnt dort einfinden würde. Mittlerweile kam es ihr albern vor, wie sie einfach davongerannt war. Sie konnte nur darauf hoffen, dass er dafür Verständnis hatte.
Nachdem Pearl ungefähr fünfundvierzig Minuten lang Tonleitern geübt hatte, machte sie mit der zweiten Übung weiter, die James vorgeschlagen hatte. Sie würde Cherokee in jeder einzelnen der zwölf Tonarten durchspielen. Und während der kommenden Wochen und Monate bestand ihre Hauptaufgabe darin, dies mit jedem Song zu tun, den sie kannte, bis ihr Körper mit jeder Nuance jedes einzelnen Musikstückes so vertraut war, dass ihr Ansatz, ihre Finger, ihre Lungen und Ohren mühelos damit umgehen und es wie von selbst spielen konnten.
Sie hörte das Klingeln an der Tür, unterbrach aber nicht ihr Spiel. Kurz darauf kam ihr Vater die Treppe heruntergepoltert und brachte ihr ein Telegramm. Mit einem flauen Gefühl im Magen riss sie den Umschlag auf. »Heute keine Lektion. Habe keinen Urlaub bekommen. James.«
»Schlechte Nachrichten?«, wolle Aubrey wissen.
»Nicht wirklich«, antwortete sie und versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Gleichzeitig fürchtete sie, James würde sie nun doch abblitzen lassen. Sie musste ihn unbedingt sehen – heute noch. Die Vorstellung, eine ganze Woche dazusitzen und auf den nächsten Termin zu warten, war schrecklich.
Eine Stunde später stieg sie in der Central Station mit ihrem Instrumentenkasten in einen Zug. Sie hatte bereits von dem Armeecamp, wo er stationiert war, gehört; es lag ungefähr zwanzig Kilometer vom Stadtzentrum von Granville entfernt. Sie war sich darüber im Klaren, dass dies ein ziemlich waghalsiges Unterfangen war – wie ein liebeskrankes junges Ding so einfach vor den Pforten eines Militärlagers aufzukreuzen –, aber die geplatzte Lehrstunde mit dem Saxofon kam ihr als Vorwand gerade recht. Hatte er nicht auch der Musik zuliebe die verrücktesten Sachen gemacht? Monatelang nur Kaffee und Aufputschmittel zu sich genommen? War per Anhalter nach Kansas City und von dort weiter nach New York gereist? Und hatte er nicht ein ganzes Jahr lang als Tellerwäscher im Savoy Ballroom gearbeitet, dem legendären Tanzclub in Harlem, nur um jeden Abend den Pianisten Art Tatum hören zu können?
Am Bahnhof in Granville erkundigte sich Pearl bei einem Schaffner nach dem Weg. Er deutete eine der Straßen entlang auf eine Ansammlung von Baracken, die nebeneinander aufgereiht waren. Dahinter sollten sich ein Baseball-Spielfeld und ein Badetümpel befinden. Die Wege zwischen den Baracken waren mit Unkraut und Gänseblümchen gesäumt. Ein Zug amerikanischer GIs exerzierte mit geschulterten Gewehren unter dem Kommando eines Feldwebels, der auf dem Vorfeld des Camps pausenlos Befehle brüllte. Mit einem Mal kam sich Pearl ein wenig lächerlich vor, wie sie da in ihrem geblümten Kleid mit einem Instrumentenkasten in der Hand am Zaun eines Militärlagers stand. Sie
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