Bis ans Ende des Horizonts
heiraten? Wir brauchen nicht einmal die Einwilligung meiner Eltern.«
»Liebling, was meinst du, warum er mich hier festhält und sich seit zwei Wochen jeden Tag neue Schikanen für mich ausdenkt?«
»Aber irgendwann muss er dir einen Urlaub genehmigen.«
»Der Clou kommt erst noch, Liebes«, sagte er und schlang seine Finger in ihre. »Ich möchte nicht, dass du dich allzu sehr darüber aufregst. Wir finden schon eine Lösung.«
»Was gibt es noch?«
James rechte Wange fing unwillkürlich zu zucken an. Sie ahnte, dass er ihr die nächste schlechte Nachricht am liebsten vorenthalten hätte. »Er will mich verlegen.«
In diesem Moment stürzte alles so schnell in sich zusammen, dass sie die Neuigkeit kaum verdauen konnte. »Wohin?«
»Nach Queensland. Weit in den Norden. Schon nächste Woche. Ich nehme an, am Freitag geht’s los.«
»Dann komme ich mit dir«, sagte sie so unwillkürlich, als sei das so einfach, wie jemandem auf einer Straße nachzulaufen.
»Das geht nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Solange der Krieg dauert, darfst du die Grenzen zu einem anderen Bundesstaat ohne Genehmigung der Polizei nicht überqueren.«
Daran hatte sie nicht gedacht. Völlig überwältigt lehnte auch sie nun die Stirn gegen den Zaun und dachte fieberhaft über einen Ausweg nach. Alles an ihrer Situation wirkte mit einem Mal angespannt, alles war auf einmal dringend und mit doppelter Intensität spürbar, und alles schien jetzt schnell gehen zu müssen. Gerade als sie das Gefühl hatte, von Panik überwältigt zu werden, kam ihr Nora Barnes und deren großzügige Einladung in den Sinn.
Sie verabredeten sich für den kommenden Samstagabend nach der Vorstellung und nachdem Pearl ihr Lohn ausgezahlt wurde, in der kleinen Straße auf der Rückseite des Trocadero. James war sich sicher, dass er keine Ausgeherlaubnis erhalten würde. Aber Tyrone hatte an diesem Wochenende Dienst, und er sollte einen Lastwagen vom Camp Granville zum White-Bay-Kai überführen und war zuversichtlich, James darin herausschmuggeln zu können. Dann mussten sie nur noch den letzten Zug Richtung Blue Mountains erwischen, wo sie sich auf Noras und Pookies Farm verstecken wollten, bis der Krieg vorbei war. Als Pearl ihre Freundin am Telefon in diesen Plan einweihte, zeigte diese sich ganz begeistert von der Aussicht, den Flüchtlingen sozusagen ein Asyl bieten zu können. Pookie und sie würden sich über die Gesellschaft freuen, sagte Nora. »Solange die Situation so schlecht ist.«
Da Martin inzwischen auch nicht mehr da war, erschien ihr der Gedanke, von zu Hause fortzulaufen, nicht mehr so schmerzlich. Ohne ihn wirkte das Haus öde und leblos. Ihre Eltern spulten Tag für Tag die ewig gleiche, langweilige Alltagsroutine ab; Großmutter Lulu saß von früh bis spät stumm neben dem Kamin. Natürlich würden Pearl die abendlichen Vorstellungen im Trocadero fehlen, aber in ihren romantischen Zukunftsträumen stellte sie sich vor, wie James und sie nach dem Krieg auf viel größeren und bedeutenderen Bühnen auftreten würden. Es musste auch Konzerthallen geben, wo die Unterschiede von Geschlecht und Hautfarbe keine Rolle spielten. Was sie beide im Moment planten, verstieß natürlich gegen das Gesetz, doch für Pearl war es der kühnste Schritt, den sie je gewagt hatte.
Jedes Mal, wenn sie in dieser Woche abends das Haus verließ, um zur Vorstellung zu gehen, nahm sie heimlich ein paar Kleidungsstücke und was sie sonst noch brauchte mit ins Trocadero und hortete diese Sachen in ihrem Spind in der Garderobe. Das gelang ihr so unauffällig, dass weder ihr Vater noch ihre Mutter irgendeinen Verdacht schöpften. In dem Tanzsaal sammelten sich unterdessen zwei Röcke, drei Kleider, Strümpfe, vier Paar Schuhe, Unterwäsche, ihre Lieblingsschallplatten, Familienfotografien, Kosmetika, ihr Adressbuch, Notenblätter und die dreiundzwanzig Pfund, die sie in einem Loch in ihrer Matratze versteckt hatte. Sie kaufte sich ein neues Paar Pumps, sozusagen als Einstieg in das neue Leben, das ihr nun bevorstand. Am Samstagabend war ihr Koffer mit den restlichen Sachen so prall gefüllt, dass sie ihn mit einem Strick zubinden musste. Pearl hatte auch bereits einen Abschiedsbrief an ihre Eltern verfasst – halb Erklärung, halb Entschuldigung, verbunden mit der Bitte, sich keine Sorgen zu machen; den wollte sie einwerfen, kurz bevor sie den Zug nach Katoomba bestiegen.
Den ganzen Samstagabend über musste sie stets daran denken, dass dies ihr letzter Auftritt im
Weitere Kostenlose Bücher