Bis ans Ende des Horizonts
Sie war sich hinsichtlich ihrer Gefühle für Hector nicht sicher. Sie wusste nicht, ob sie nur Sympathie oder auch Liebe für ihn empfand oder irgendetwas dazwischen, das sie nicht genau benennen konnte. Vielleicht war es auch nur Dankbarkeit, Dankbarkeit für seine Freundschaft und seine zärtliche Rücksichtnahme. Das Einzige, was sie genau wusste, war, dass sie Hector gegenüber nichts von jener Leidenschaft verspürte, wie sie sie – seinerzeit und auch nach wie vor – für James hatte. Sie nahm den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte ihn im Sonnenlicht. Dann hielt sie ihn wie ein winziges Monokel vor ihr linkes Auge. »Der ist sehr hübsch, Herr Doktor.«
Hector biss auf seine Unterlippe. »Willst du, Pearl?«
Um Zeit zu gewinnen, versuchte sie den Ring über den dritten Finger ihrer rechten Hand zu streifen, doch er war zu klein, und sie brachte ihn nicht über das zweite Fingerglied.
Hector wirkte enttäuscht. »Ich werde ihn größer machen lassen.«
Pearl drehte den goldenen Ring immer wieder um das vordere Fingergelenk. Sie wollte um keinen Preis seine Gefühle verletzen.
»Du hältst mich für zu alt«, sagte er.
»O nein, keineswegs.« Ihre Antwort kam ein bisschen zu schnell, und er zuckte ein wenig zusammen, bevor er sich aus seiner halb knienden Position direkt vor ihr auf dem Boden niederließ. »Ich war auch einmal dein Arzt. Hat das eine besondere Bedeutung für dich?«
Sie überlegte, ob sie Ausflüchte machen sollte, ob sie seinen eigenen Einwand aufgreifen und ihm dadurch ohne großen Aufwand eine Abfuhr erteilen sollte, aber dann bemerkte sie, dass Hector am ganzen Körper zitterte. Sie streckte ihren Arm aus und berührte seine Schulter, doch er schüttelte sie ab wie ein beleidigter kleiner Junge. Da wurde ihr bewusst, dass sie mittlerweile auch kein junger Wildfang mehr war, der sich in zweifelhaften Kneipen herumtrieb und sich zu Liebespaarungen auf Jahrmärkten, in Parks und in verlassenen Villen bereit fand. Bisweilen hatte sie sich durchaus als Dame von Welt gesehen, aber ihr inneres Selbst, ihr jugendliches Ungestüm, war noch immer vorhanden, ihre unreife, kindische Art, nie an die Folgen ihres Handelns zu denken oder daran, wie sie die Gefühle anderer Menschen verletzte. Vielleicht würde eine Ehe sie reifer und verantwortungsbewusster machen.
9
Ihre Verlobung mit einem Arzt verbesserte schlagartig Pearls Ruf in ihrer Nachbarschaft. Man betrachtete die junge Willis nun nicht mehr als unbekümmerten Wildfang, sondern als erblühte junge Schönheit, die bereit für den Ehestand war. Natürlich gab es auch ein paar zynische Stimmen, die es für durchaus angemessen hielten, dass eine so verrückte junge Frau wie Pearl ausgerechnet einen Psychiater heiratete. Doch die meisten Freunde der Familie freuten sich für das junge Paar und begannen bereits damit, sich nach Hochzeitsgeschenken umzusehen.
Eine Liste mit den Hochzeitsgästen musste erstellt, die Blumendekoration ausgesucht werden. Nora Barnes, die inzwischen einen Jungen zur Welt gebracht hatte, sollte die einzige Brautjungfer sein. Aubreys fünf Jahre alte Großnichte Lavinia war als Blumenmädchen vorgesehen. Die Kleine litt an Kinderlähmung, weshalb Clara entschied, dass sie ihr Stützkorsett tragen sollte, aber nicht die runde Brille mit den dicken Gläsern. Hector hatte keine engen Freunde, weshalb sein Vater Trauzeuge sein sollte. Die umfassenden Rationierungen wegen des Krieges machten es schwer, einen schönen Stoff für das Hochzeitskleid zu ergattern. Wochenlang durchstöberte Pearl immer wieder die Regale der Warenhäuser, bis man sich schließlich darauf einigte, eine der alten Theaterroben aus elfenbeinfarbenem Satin von Clara umzuarbeiten. Clara setzte sich an die Nähmaschine, und Großmutter Lulu stickte Glasperlen auf das Mieder. Zudem entschieden sich die Frauen für einen Schleier, der an einem Kranz frischer Kamelien festgemacht werden sollte. An den Wochenenden brachte Hector stets Feuerlilien aus seinem Gewächshaus mit. Aufgrund seines Verhaltens fühlte Pearl sich zu ihm hingezogen – seine Zuvorkommenheit und seine Großzügigkeit überzeugten sie. Andere Männer in einer vergleichbaren Position waren in der Regel viel engstirniger und selbstbezogener. Seine zurückhaltende Art führte auch dazu, dass Pearl nicht im Entferntesten den Wunsch verspürte, ihm in heftiger Leidenschaft das Hemd vom Leib zu reißen oder mit der Zunge sein Ohr zu liebkosen. Ihre Art des Umgangs miteinander
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