Bis ans Ende des Horizonts
Lulu wieder normal, und ihr Puls ging regelmäßig. Doch sie war noch immer bewusstlos und wurde daher auf die Intensivstation verlegt. Die Ärzte vermuteten, dass sie einen Schlaganfall erlitten hatte. Sie machten der Familie wenig Hoffnung, dass Lulu das Bewusstsein wiedererlangen könnte, vor allem angesichts ihres hohen Alters von dreiundachtzig Jahren. Sie rieten, weitere Familienangehörige und Freunde umgehend zu benachrichtigen.
Die engsten Verwandten versammelten sich an ihrem Bett. Pearl, Hector, Aubrey und Clara wechselten sich ab, damit stets jemand an Lulus Seite war und auf sie einsprach. Pastor Jim traf ein, besprengte sie mit Weihwasser und erteilte ihr mit sanfter, beinahe versagender Stimme die Sterbesakramente. Aubrey schickte über das Hauptquartier der Armee in Brisbane ein Telegramm an Martin und bat ihn dringend, sofort nach Hause zu kommen. Clara entschied, dass die Hochzeit verschoben werden müsse. Ihre Großmutter konnte jederzeit sterben; die Feier sollte aber nicht von einem Trauerfall überschattet werden. Und dann blieb nichts weiter zu tun, als zu beten.
Zwei Tage später kam Pearl im Krankenhaus gerade von der Toilette, als ein großer, braungebrannter Mann in Uniform im Flur auf sie zukam. Er musste sich seinen Weg zwischen einem Teewagen, zwei Nonnen, einem Mann, der auf Krücken humpelte, und einem leeren Rollstuhl hindurchbahnen. Seine blonden Haare waren sehr kurz geschnitten. Er hinkte ein wenig, und Pearl ertappte sich dabei, wie sie dachte, dass er ziemlich gutaussehend war.
Dann rief der Mann ganz laut: »Schwesterherz!« Er rannte los, und schneller, als sie sichs versah, wurde sie hochgehoben und herumgewirbelt.
»Du bist ja ziemlich mager«, schimpfte er und umspannte ihre schmale Taille mit seinen großen Händen. »Haben sie dir in dem Irrenhaus nichts zu essen gegeben?«
Pearl musste zugleich weinen und lachen. »Denk an Mamas Kochkünste, vor allem an ihr pampiges Gemüse«, sagte sie. »Das reicht schon, um verrückt zu werden.«
Martin wirkte irgendwie größer und auch kräftiger. Auf seiner Nase pellte sich die Haut, er hatte blonde Strähnen von der Sonne bekommen, und über seinen Augen zeichneten sich feine Fältchen ab. Er legte ihr den Arm über die Schulter, und gemeinsam schlenderten sie den Gang zu Lulus Station entlang und statteten ihrer Großmutter einen längeren Krankenbesuch ab. Als die Zwillinge einige Zeit später vom Hospital nach Hause spazierten, fragte Martin seine Schwester in neckischem Ton: »Und du wirst demnächst unter die Haube kommen? Ich bin schon sehr gespannt, denjenigen kennenzulernen, der das fertig gebracht hat, meinen zukünftigen Herrn Schwager.«
Hector erschien am frühen Abend. Er trug einen dunklen Anzug und eine Fliege. Seine hellbraunen Augen wirkten verengt, und er vermied den direkten Blickkontakt. Während des Abendessens machte er wieder einige seiner üblichen belehrenden Bemerkungen über seine Verlobte. »Pearl sollte lieber gar keinen Alkohol trinken«, sagte er zu Martin. »Das ist nicht gut für ihren Teint.« – »Pearl vermisst das Saxofonspielen überhaupt nicht – das war nur so eine Phase in ihrem Leben, darüber ist sie inzwischen hinweg.« – »Pearl ist in Wirklichkeit gar nicht so unbeholfen, sie kann manchmal nur nicht die Prioritäten richtig setzen. Wir versuchen ihr beizubringen, sich ein bisschen mehr zu konzentrieren.«
Pearl reagierte darauf zunehmend verärgert. Hector kannte sie erst seit rund einem Jahr, doch Martin kannte sie bereits sein ganzes Leben – ja mehr als das: Sie waren einstmals gemeinsam im Bauch ihrer Mutter gewesen.
Hector verabschiedete sich bald nach dem Abendessen. Er gab Pearl einen Kuss auf die Wange und riet ihr, bald zu Bett zu gehen. In der Tat war die gesamte Familie so erschöpft, dass sich alle nach den Neun-Uhr-Nachrichten in ihre Schlafzimmer zurückzogen. Gegen Mitternacht läutete das Telefon. Lulus Zustand hatte sich verschlechtert. Möglicherweise überlebte sie die Nacht nicht mehr. Sie zogen sich schnell ausgehfertig an und traten in der Dunkelheit zu Fuß den Gang ins St. Vincent an. Lulu lag im Sterben, aber niemand vermochte genau zu sagen, wann ihre letzte Stunde schlagen würde; sie konnte noch am selben Tag sterben oder auch erst in einigen Wochen. Das wusste nur Gott allein. Merv Sent hatte mit Martin am Telefon gesprochen, weil er wissen wollte, wann er zum Dienst in die Band zurückkehren würde, aber Martin hatte ihm gesagt, dass er jetzt
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