Bis ans Ende des Horizonts
war entspannter und ausgeglichener. Sie war sich durchaus darüber im Klaren, dass sie keineswegs heftig in ihn verliebt war, aber sie war sich mittlerweile auch sicher, dass sie nie mehr wieder etwas von James hören würde. Und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, Hectors Gefühle zu verletzen oder ihn unglücklich zu machen. Selbst wenn ihr gelegentlich Bedenken kamen, ob sie wirklich ihr ganzes Leben mit ihm verbringen wollte – dies war sicherlich eine verständliche Reaktion angesichts der Tragweite einer solchen Entscheidung. Und außerdem waren sie nun verlobt, und es war ohnehin zu spät, die Meinung zu ändern. Außerdem brauchte sie nicht zu befürchten, dass sie Hector durch den Krieg verlieren könnte, denn als Anstaltsleiter konnte er nicht zum Militär eingezogen werden. Ihn zu heiraten war die richtige Entscheidung.
An einem strahlend schönen Samstagvormittag im September, zwei Wochen vor der Hochzeit, kauften Hector und Pearl ihre Eheringe bei einem Juwelier auf der King Street; bei demselben, der bereits Pearls Verlobungsring weiter gemacht hatte. Hectors Finger waren so lang und schmal, dass er nur eine halbe Größe mehr benötigte als sie. Im Scherz sagte Pearl, sie könne sich ja dann jederzeit seinen Ring borgen, falls sie ihren verlieren sollte. Arm in Arm spazierten sie anschließend durch den Botanischen Garten nach Potts Point zurück. Als sie im Schatten der mächtigen Bäume an einer Stelle vorbeikamen, wo eine Schar schlafender Flughunde an den Ästen eines Baumes hing, fiel Pearl ein, dass sie sich genau auf denselben Wegen bewegten, auf denen sie früher so oft mit James gegangen war – wenn auch mit ihm nie Arm in Arm. Für einen kurzen Augenblick bildete Pearl sich ein, der Arm an ihrer Seite sei der von James, und der süßliche Duft, der vom Ententeich herüberwehte, erinnerte sie an seine zitronige Haarcreme. Sie lächelte Hector ein wenig verlegen wegen ihrer heimlichen gedanklichen Untreue an, und dann schritten sie durch das große schmiedeeiserne Tor am Parkeingang und die Treppenanlage hinab, die zu den Kais von Woolloomooloo führte. Reste von bunten Luftschlangen und zusammengeschrumpfte Luftballons hingen noch an den Markisen von Milchbars und kleinen Läden, die letzten Überbleibsel der Wahlpartys aus der vorangegangenen Woche, als Premierminister John Curtin in sein Amt gewählt worden war.
Pearl hatte darauf bestanden, ihren Ehering auf dem ganzen Weg nach Hause zu tragen; erst dort wollte sie ihn in die mit lila Samt ausgeschlagene Schachtel legen und sie Hector zurückgeben. Sie hob nun die Hand, und ein Sonnenstrahl ließ den Ring hell aufleuchten. Daraufhin blieb sie unvermittelt auf dem Gehweg stehen und gab Hector einen Kuss auf die Lippen, was die barfüßigen Straßenkinder, die hier spielten, mit anzüglichen Pfiffen quittierten.
Sie lachte über die frechen Bengel und Gören, und in diesem Moment trat ein Mann aus einem der Pubs und rempelte sie an.
»’tschuldige, Schätzchen!«, sagte er. Sein Atem roch unangenehm deutlich nach billigem Whisky. Pearl zuckte unwillkürlich zurück und wollte schon weitergehen, als sie ihn an seinem dünnen, pomadisierten und nach hinten gekämmten Haar sowie seinem zu einem schmalen Strich rasierten Oberlippenbärtchen erkannte: Es war Lionel Bogwald, der Bandleader aus dem Trocadero. Auch er erkannte sie erst in diesem Augenblick: Daraufhin umarmte er sie stürmisch und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wie habe ich dich vermisst, mein Kind! Das ging allen so!« Dann hielt er Pearl am ausgestreckten Arm vor sich. »Meine Güte, du siehst umwerfend aus.«
Pearl lachte verlegen. »Also, ihr habt mir natürlich auch gefehlt.«
»Es war einfach nicht mehr dasselbe, seit Martin und du weg wart«, fuhr er fort. »Keiner, der sich einen Schabernack ausdenkt, kein Spaß mehr.« Er öffnete ein silbernes Etui und bot ihr eine Zigarette an. Pearl nahm sich eine Zigarette, er ebenfalls und entzündete sie mit seinem Feuerzeug. Nachdem sie den ersten Zug getan hatte, merkte Pearl, dass sie vergessen hatte, ihren früheren Vorgesetzten mit ihrem Verlobten bekannt zu machen. Hector stand mit gerunzelter Stirn neben ihr.
»Oh, ich muss mich entschuldigen!«, rief sie. »Hector, das ist Lionel Bogwald. Er war mein Kapellmeister im Trocadero. Lionel, das ist Hector.«
Bogwald gab nach dem Händeschütteln einige Höflichkeitsfloskeln von sich und bot Hector ebenfalls eine Zigarette an, doch dieser schüttelte den Kopf. Der
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