Bis auf die Haut

Schauer laufen durch deinen Bauch, dann bewegen sich deine Finger immer schneller, tauchen immer tiefer, und die Schauer werden heftiger, schießen nach oben bis in deine Brüste, so dass du kaum noch atmen kannst; du krallst dich in den Teppich und kommst, wie du noch nie gekommen bist, denn die Schwangerschaft steigert deine Sensibilität ganz ungeahnt, stimmt dich so fein wie einen Konzertflügel.
    Du hattest erwartet, dass geschwollene Knöchel und ein aufgeblähter Leib dein Leben recht beschwerlich machen würden. Doch während das Kind in seinem Fass heranreift, vibrierst du vor Leben und vor Verlangen, Energie umgibt deinen Körper wie eine Aura, darauf warst du nicht gefasst.
    Cole regt sich: Komm ins Bett, ruft er, du brauchst Schlaf.

98. Lektion Flickarbeiten gehören für ungeübte Finger zu den
schwierigsten Aufgaben
    Genau zwei Jahre nach dem Hotelzimmer in Marrakesch.
    Theos Geburtstag, der erste Juni, der jetzt immer den Beigeschmack jener Entdeckung tragen wird. Du brauchst Ablenkung, lädst drei alte Kolleginnen von der City University zum Abendessen ein. Cole ist mit einem Schulfreund unterwegs, schaut sich den neuesten James Bond an.
    Während du in der Küche herumwerkelst, schnippelst, gießt und rührst, wandert das Gespräch von Klamotten zu Frisuren, Kollegen, Wohnungen und endet schließlich wie immer mit diesen Freundinnen bei Männern. Megan erzählt, sie hätte immer noch nicht wieder mit ihrem Freund Dom geschlafen, seit acht Jahren geht das schon so, sie leben wie Bruder und Schwester. Jetzt ist sie neununddreißig und wünscht sich ein Kind. Sie weiß nicht, was mit Dom los ist, er will einfach keinen Sex mehr, schiebt sie immer weg.
    Ist er möglicherweise schwul?
    Nein.
    Verlass ihn, sagt ihr alle. Bevor du achtundvierzig bist und immer noch kinderlos, dann ist es zu spät.
    Das ist so schwer, protestiert sie.
    Dann wendet sie sich direkt an dich, Gott weiß, warum: Bist du schon mal bei einem Callboy gewesen?
    Nein! Du lachst prustend.
    Hast du schon mal daran gedacht?
    Nein.
    Ich würd’s wahnsinnig gern tun, hab aber keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.
    Du wirfst Cath, die auffallend still ist, einen Seitenblick zu. Sie ist deine engste Freundin unter den Unikolleginnen. Sie führt eine der glücklichsten Ehen, die du kennst, und hat zwei prächtige Jungs im Teenageralter. Des Weiteren hat sie ständig Affären, seit Jahren schon, aber auch ein intensives Liebesleben mit ihrem Mann Mike, der in seliger Ahnungslosigkeit schwebt. Das schürt mein Verlangen nach ihm, hat sie einmal zu dir gesagt, ich kann’s einfach nicht lassen. Und will’s auch nicht. Niemals.
    Du hast dich immer gefragt, was passieren würde, wenn Mike Wind davon bekäme. Und Cole? Du hast keine Ahnung, wie er reagieren würde. Unwillkürlich überläuft dich eine Gänsehaut, als du die Nudeln umrührst und dir vorstellst, er würde zufällig über dein geheimes Leben stolpern.

99. Lektion Pfleget eure Pflanzen gut, gießet sie mit Bedacht und entfernet alle welken Blätter
    Du machst noch einen Versuch bei deiner Mutter. Jetzt, wo du schwanger bist, möchtest du ihr nah sein, möchtest du von ihrer Erfahrung profitieren, schließlich hat sie das Ganze ja selbst schon erlebt. Aber sie verbringt den ganzen Sommer bei einer Ausgrabung im südöstlichen Russland. Sie arbeitet an einem Fisch fressenden Dinosaurier mit machetengroßen Zähnen, dem Schrecken der Meere vor einhundertfünfzig Millionen Jahren. Sechs Zähne wurden bereits gefunden; sie sind immer noch messerscharf, mehrere Mitglieder des Ausgrabungsteams haben sich daran verletzt. Deine Mutter sucht die Umgebung des Verdauungstrakts nach Indizien ab, wovon sich dieses Tier ernährte, und hat tintenfischartige Fossilien und uralte Fischschuppen ausgebuddelt; sie liebt ihre Arbeit. Und die Hitze. Sie erzählt dir, dass dort im Moment gerade eine Hitzewelle herrscht und der Himmel knallblau ist.
    Klingt paradiesisch, sagst du.
    Ist es auch, antwortet sie. Diesmal schlägt sie einen unbeschwerteren Ton an, als hätte sie Zeit gehabt, sich in Gedanken mit dem bevorstehenden Ereignis anzufreunden. Doch dann lässt sie eine spitze Bemerkung einfließen, dass du als Mutter vielleicht deinen Egoismus ablegen wirst, und dir steigt wieder der vertraute Kloß in der Kehle hoch. Am liebsten würdest du den Hörer aufknallen, doch du tust es nicht. Wenigstens in einem Bereich deines Lebens sollen die Dinge harmonisch laufen
.
    Du weißt nicht, was sie an dir