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Bis auf die Haut

Bis auf die Haut

Titel: Bis auf die Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikki Gemmell
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als Egoismus wahrnimmt. Vielleicht deinen mangelnden Dank dafür, dass sie dich so lange alleine großgezogen hat? Du hast längst Verteidigungsstrategien gegen ihre Bissigkeiten entwickelt: legst mitten im Gespräch auf, übergehst ihre Bemerkungen einfach oder verlässt den Raum.
Kämpfen ist so anstrengend.
    Was ist denn los, fragt Cole am Abend, irgendwas nagt doch an dir.
    Ich weiß auch nicht, ich kapier’s einfach nicht, tut mir Leid.
    Warum besuchst du deine Mum nicht einfach? Dann kriegst du Abstand zu allem hier und kannst dich mit ihr aussprechen.
    Du stellst dir vor, wie du die Sonne in deine Lungen einströmen lässt und ihr grelles Licht Gabriel und die Taxifahrer aus deinem Leben wegbrennt. Du wirst bis in den Vormittag hinein schlafen, dich mit deiner Mutter wieder gut verstehen und dein Leben ins Reine bringen. Dich wohlig ins mütterliche Nest verkriechen und Ruhe finden.
    Ja, sagst du zu Cole, ja, warum eigentlich nicht.
    Am nächsten Vormittag rufst du sie wieder an.
    Ich bin nicht sicher, ob das der richtige Ort für eine Schwangere ist. Ziemlich ungemütlich hier. Staubig und heiß, die meisten Straßen sind nicht mal asphaltiert.
    Ich muss einfach raus aus London. Bitte.
    Okay, lacht sie, okay. Das kann ich dir nachfühlen.

100. Lektion Lüften ist ein Vorgang von äusserster Wichtigkeit
    Anflug auf eine Ebene, die einst ein Binnenmeer gewesen ist. Jetzt ist sie mit Salz überkrustet, die Gerippe alter Schiffe grinsen daraus empor wie Skelette riesiger prähistorischer Lebewesen aus darunter liegenden Bodenschichten. Die Fischer verfolgten das zurückweichende Wasser und versuchten es durch riesige Kaianlagen aus Beton zu erreichen, die sich wie Finger in die weite Fläche vorstrecken. Doch der See zog sich immer weiter zurück, weil der Fluss, der ihn speiste, von einem Tausende Kilometer langen Bewässerungssystem angezapft wurde, und eines Tages gab es diesen See nicht mehr. An den einstigen Ufern ragen auf den Gräbern der längst verschwundenen Fischer anklagend die schiefen Dreimaster-Grabkreuze empor. Die Einzigen, die heute noch in die staubige Stadt am Rand der Ebene kommen, sind Paläontologen auf der Jagd nach alten Knochen.
    Die einmotorige Maschine hüpft holprig über die unbefestigte Landebahn und kommt mit der präzisen Drehung einer Ballerina vor einem Terminal zum Stehen, das an eine Bushaltestelle erinnert. Das Blechdach sonnt sich unter dem weiten Blau eines gottlosen Himmels. Ein älterer Mann gießt die Pflanzen in den Töpfen neben der Tür, er päppelt die Blumen, deren Farben so gar nicht zueinander passen wollen, mit demselben Eifer, den man sommers an englischen Pub-Besitzern beobachten kann. Er mustert den einsamen Koffer des einzigen Fluggasts, der hier auscheckt, das Großstadt-Outfit, das Gesicht. Du nickst ihm nur zu.
    Der Geruch des Wassers auf dem nassen Beton versetzt dich in deine Kindheit zurück und du reckst dein Kinn zum Himmel. In dieser Luft fühlst du dich in deinem Element, sie ist so trocken wie die Haut deiner Großmutter, die sich anfühlte wie ein Papiertaschentuch, und du spürst, wie sich dein Körper aufrichtet. Deine Mutter biegt mit einem von den Sponsoren der Ausgrabung zur Verfügung gestellten Geländewagen in den Parkplatz ein. Du hast sie lange nicht gesehen und erschrickst, wie alt sie geworden ist. Als wäre sie implodiert, fiele in Zeitlupe in sich zusammen wie ein einstürzendes Gebäude. Der alte Mann verzieht zum Abschied seinen Mund zu einem einzahnigen Grinsen, die Welt ist für ihn wieder in Ordnung, du bist einsortiert.
    Auf der Fahrt zum kleinen Fertighaus deiner Mutter weißt du schon, dass du länger bleiben wirst, als ihr lieb ist. Du fragst dich, wie lange sie dich diesmal ertragen kann und ob dir genug Zeit zur Erholung bleibt.
    Ihre in allen Räumen verstreuten Kleider drängen jeden Besucher hinaus. Halb ausgepackte Koffer stehen zwischen Haufen unsortierter Wäsche. Zwischen den Rollen von Blisterfolie, den Gipssäcken, den Hämmern und Spitzhacken kann sie kein sauberes Handtuch für dich finden und entschuldigt sich, dass sie nicht aufgeräumt hat. Sie hat zu lange allein gelebt.
    Aber das macht dir nichts aus. Du möchtest so sehr, dass dein Besuch hier ein Erfolg wird.
    Am ersten Abend schwatzt ihr lange, während euch die frischen belgischen Pralinen, die du ihr mitgebracht hast, wie weiche Wölkchen auf der Zunge zergehen. Heute Abend läuft es hervorragend, ein paar Tage wird es gut gehen, und wenn du Glück

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