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Bis auf die Knochen

Bis auf die Knochen

Titel: Bis auf die Knochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
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Willen und die Selbstbestimmung des Menschen, Bryans verbissener Glaube an die Notwendigkeit g ö ttlicher Erl ö sung. In ihren Er ö ffnungsreden steckten sie ihre Positionen ab. » Nicht Scopes steht vor Gericht «, proklamierte Darrow, » vor Gericht steht die Zivilisation.« Bryan legte die Latte sogar noch h ö her: » Wenn die Evolution gewinnt, dann geht das Christentum.«
    Ich wusste seit langem, dass der Prozess ein Medienspektakel gewesen war; was mir erst klar wurde, als ich die Ausstellung im Keller sah, war, was f ü r ein sorgf ä ltig einstudierter Reklamefeldzug er von Anfang bis Ende gewesen war. Das antirevolution ä re Gesetz Tennessees von 1925 war genauso echt wie das Interesse der Amerikanischen B ü rgerrechtsunion, es auf die Probe zu stellen. Reiner Humbug war sozusagen der Prozess selbst. Er war den Hirnen ortsans ä ssiger Gesch ä ftsleute entsprungen, Mitgliedern der ö rtlichen Handelskammer, die davon tr ä umten, Dayton mit einem Paukenschlag auf die Landkarte zu bringen. Als ä hnliche Kontroversen in anderen gr öß eren St ä dten in Tennessee allm ä hlich Fahrt aufnahmen, taktierten die Antreiber in Dayton, um den Scopes-Prozess zu beschleunigen, damit Knoxville und Chattanooga Dayton nicht die Schau stahlen. Selbst der Beklagte, der ernste junge John Scopes, war eine F ä lschung: Scopes unterrichtete Chemie, nicht Biologie; er war ü berzeugt, die Rolle des p ä dagogischen M ä rtyrers sei sein Beitrag zur ö konomischen Rettung der Stadt. Mehreren Sch ü lern wurde sorgf ä ltig eingepaukt, zu best ä tigen, dass, ja, in der Tat, Mr. Scopes lehrte, dass der Mensch von affen ä hnlichen Vorfahren abstamme. Als an einem Punkt eine Formsache ans Licht kam, die drohte, die Klage gegen Scopes zu entkr ä ften, beeilte sich Darrow – der Gro ß e Verteidiger! – dem Gericht zu versichern, dass die Verteidigung nicht wolle, dass die Klage fallen gelassen wurde. Darrow hoffte auf einen Schuldspruch, gegen den er bis hinauf zum US Supreme Court Rechtsmittel einlegen konnte. Kurz gesagt, trotz des noblen Skripts von Wer den Wind s ä t war der spektakul ä re Fall der amerikanischen Rechtsprechung genauso sorgf ä ltig inszeniert wie ein professioneller Wrestlingkampf.
    Wie geplant verlor die Evolution vor dem ö rtlichen Gericht, also gewann wohl das Christentum. Doch der Sieg klang, selbst zur damaligen Zeit, hohl. Bryan – der in den Zeugenstand getreten war, um die Wahrheit der Bibel zu verteidigen – wurde in der Presse als » mitleiderregender, verwirrter Krieger « bezeichnet. Sechs Tage nach dem Prozess starb der » Great Commoner « in einem Haus in einer Seitenstra ß e in Dayton.
    Herauszufinden, dass der » bahnbrechende « Prozess von A bis Z ein Schwindel und ein Gag war, war ein wenig demoralisierend. Ich war nicht scharf auf die Erkenntnis, dass das Gerichtswesen genauso anf ä llig war f ü r selbsts ü chtige Manipulation und Effekthascherei wie, sagen wir mal, politische Kampagnen. Andererseits r ü ckte die Entmystifizierung meinen Bananencremekuchen in eine breitere historische Perspektive. Wenn Bryan der » Great Commoner « und Darrow der Gro ß e Verteidiger waren, vielleicht, nur vielleicht, w ü rde die Geschichte Brockton dann als die Gro ß e Meringe in Erinnerung behalten. Immerhin konnte ich mit Sara Lees Pie-Imperium einen Promiwerbevertrag f ü r ihre Kuchen abschlie ß en.

37
    Als ich an dem Tag nach Jess’ Beerdigung wach wurde, war das Tageslicht, das durch die staubigen Fliegengitterfenster der H ü tte schien, noch tr ü ber als sonst. Durch den Schmutz auf der Scheibe und den Staub und die Spinnweben auf dem Fliegengitter glaubte ich – obwohl ich mir nicht recht sicher sein konnte – dunkle Wolken ü ber die Baumwipfel ziehen zu sehen. Das bedeutete, dass ich drinnen an meiner Ü berarbeitung des Lehrbuchs arbeiten musste, im Schein einer Kerosinlampe. Obwohl die Vorstellung irgendwie romantisch war und an Abe Lincoln erinnerte, wusste ich schon jetzt, dass ich nach einem Tag, an dem ich nach vorn gebeugt dahockte, um im flackernden Lampenlicht kleine Buchstaben zu lesen, verspannte Schultern und rasende Kopfschmerzen haben w ü rde. W ä hrend ich noch mit meinen Optionen haderte – den Anfall von H ü ttenkoller, den ich bekommen w ü rde, wenn ich nicht arbeitete, gegen den pochenden Kopf und den schmerzenden Nacken abwog, die ich bekommen w ü rde, wenn ich arbeitete –, begann das Handy, das Jeff mir geliehen hatte, zu klingeln.

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