Bis auf die Knochen
wenige Schritte vom Steilufer entfernt, stand eine gro ß e Kiefer, die mit dem schwarz-gelben Absperrband der Polizei umwickelt war. Ich schaute von dem Baum zu der Schlucht.
» Mord mit Aussicht «, sagte ich. » Glauben Sie, das war Absicht? «
» Vielleicht «, sagte er. » Andernfalls habe ich keine Idee, warum an diesem speziellen Ort. Muss eine ziemliche Plackerei gewesen sein, die Leiche hier rauszuschaffen.«
» Auf jeden Fall «, sagte ich.
» Und «, f ü gte er hinzu, » es ist kein besonders gutes Versteck. Nicht ann ä hernd so abgelegen wie manche Gebiete dr ü ben auf der westlichen Seite des Walds. Zum Teufel, dr ü ben Richtung Long Point und Inman Point, ich wei ß nicht, ob ich da je ein anderes Auto oder ü berhaupt einen Menschen gesehen habe. Wenn ich eine Leiche loswerden wollte, w ü rde ich sie dahin schaffen.«
» Dann wollte der M ö rder vielleicht, dass die Leiche gefunden wurde «, sagte ich. » Nur nicht sofort.«
» Da k ö nnte was dran sein «, sagte er.
Ich betrachtete den Berg jenseits des Flusses. Die Spitze war unnat ü rlich flach, und am Rand verlief wie ein Deich eine Mauer aus Stein oder Beton. Ich zeigte darauf. » Was ist das? «
» Das ist Raccoon Mountain «, sagte er. » Die Tennessee Valley Authority hat da oben ein gro ß es Reservoir mit Pumpspeicherwerk gebaut, einen rund anderthalb Kilometer breiten See. Die ganze Nacht und immer dann, wenn gerade nicht viel Strom gebraucht wird, pumpen sie Wasser vom Fluss da rauf. Und wenn der Strombedarf steigt – hei ß e Sommernachmittage, kalte Wintermorgen –, lassen sie es runterlaufen, und das Wasser treibt die Turbinen unten am Fluss an.« Er zeigte in die Schlucht hinunter auf das Ufer uns direkt gegen ü ber, wo am Fu ß des steilen Berghangs mehrere Geb ä ude und ein Parkplatz errichtet worden waren, und ich sah Wasser aus einem Abflusskanal in das Flussbett sch ä umen.
» Sie sind ein guter Reisef ü hrer «, sagte ich.
» Nicht viele Leute haben von ihrem Arbeitsplatz aus so eine Aussicht «, sagte er. » Wenn das Wetter mitspielt, esse ich bestimmt einmal die Woche hier mein Mittagessen.«
» Dann ü berrascht es mich, dass Sie die Leiche nicht gefunden haben «, sagte ich und schaute nach rechts, wo das Absperrband der Polizei den Bereich um die gro ß e Kiefer markierte.
» Ich war vor ungef ä hr drei Wochen an einem Montag hier «, sagte er. » Dann hatte ich eine Woche frei – nicht die Woche, aber die n ä chste. Wanderer haben ihn am Sonntag gefunden, an dem Tag, bevor ich wieder zur Arbeit ging. Es k ö nnte also jederzeit innerhalb dieser dreizehn Tage passiert sein. Ziemlich gro ß es Zeitfenster.«
Ich rechnete. Der Mord war fr ü hestens vor zwanzig Tagen passiert, sp ä testens vor nur acht Tagen – doch das erschien mir angesichts der Zersetzung der Unterschenkel zu kurz. » Wenn wir Gl ü ck haben, k ö nnen wir es noch ein bisschen weiter eingrenzen «, sagte ich. Ich ging langsam auf den Baum zu, dabei immer nach vorn gebeugt, um den Boden in Augenschein zu nehmen. Nachdem ich ü ber das Absperrband getreten war, kniete ich mich hin und legte die letzten zwei bis zweieinhalb Meter auf allen vieren zur ü ck.
Jess hatte mir den Bericht der Spurensicherung gezeigt, die am Tatort gearbeitet hatte. Es sah so aus, als h ä tte sie ziemlich gute Arbeit geleistet, und die Beamten hatten auch einige wichtige Insekten sichergestellt. Seit der Gr ü ndung der Body Farm – und teils wegen der dort durchgef ü hrten Forschungsarbeiten – hatte sich die forensische Entomologie sehr rasch entwickelt. In unserer ersten Pionierstudie zur Aktivit ä t von Insekten an menschlichen Leichen hatte einer meiner Doktoranden Monate damit verbracht, die Aufeinanderfolge von Insekten zu studieren, die sich von einer Leiche ern ä hrten, und detaillierte Notizen gemacht, welche Insekten wann genau auftauchten. W ä hrend er die Insekten beobachtete und sammelte, hatte er auch hungrige Schmei ß fliegen abwehren m ü ssen – die ersten und zahlreichsten Besucher –, die auf seinem Gesicht landeten und versuchten, ihm in Nasenl ö cher, Ohren und Mund zu krabbeln. Er hatte dokumentiert, dass wenige Sekunden nachdem ein Leichensack ge ö ffnet wurde, die ersten Schmei ß fliegen zur Stelle waren, angezogen vom frischen Geruch des Todes; innerhalb von Minuten suchten die Weibchen die feuchten Ö ffnungen oder blutigen Wunden der Leiche auf, da sie der ideale Ort waren, um Unmengen von Eiern zu legen, die
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