Bis Das Feuer Die Nacht Erhellt
Taschen. Nicht Vee, sondern ein Mann, groß und schlank, mit breiten Schultern und einem vage vertrauten Gang. Ich fühlte mich nicht besonders behaglich dabei, allein auf diesem Bürgersteig an einem Mann vorbeizugehen, und griff nach dem Handy in meiner Tasche. Ich wollte gerade Vee anrufen, um herauszufinden, wo genau sie war, als der Mann unter dem Lichtstrahl einer Straßenlaterne hindurchging. Er trug die lederne Fliegerjacke meines Vaters.
Ich blieb stehen.
Ohne mich zu beachten, stieg er eine Treppe zu seiner Rechten hinauf und verschwand in einem der verlassenen Reihenhäuser.
Die Haare in meinem Nacken sträubten sich. »Dad?«
Ich fing automatisch an zu rennen. Ich ging über die Straße,
ohne auf den Verkehr zu achten, weil ich wusste, es gab keinen. Als ich bei dem Reihenhaus ankam, von dem ich sicher war, dass er dort hineingegangen war, versuchte ich, die hohen Doppeltüren zu öffnen. Abgeschlossen. Ich schüttelte die Klinken, rüttelte an den Türen, aber sie gaben nicht nach. Ich beschirmte die Augen mit den Händen und spähte durch die Fenster neben der Tür. Es brannte kein Licht, aber ich konnte unförmige Umrisse von Möbeln ausmachen, die mit bleichen Laken abgedeckt waren. Mein Herz klopfte wie verrückt. War mein Vater am Leben? Die ganze Zeit … hatte er hier gewohnt?
»Dad«, rief ich durch das Glas. »Ich bin’s, Nora!«
Am Ende des Treppenaufgangs im Reihenhaus verschwanden seine Schuhe im Flur. »Dad!« schrie ich und schlug gegen das Glas. »Ich bin hier draußen.«
Ich trat zurück, blickte den Kopf in den Nacken gelegt nach oben, sah zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf und wartete, dass ein Schatten vorbeiging.
Der Hintereingang.
Kaum hatte der Gedanke mein Bewusstsein erreicht, handelte ich. Ich lief die Treppe hinunter, schlüpfte in den Durchgang zwischen diesem Reihenhaus und dem nächsten. Natürlich. Der Hintereingang. Wenn er nicht abgeschlossen war, dann konnte ich hinein zu meinem Vater …
Eis küsste meinen Nacken. Der Schauer lief mein Rückgrat hinunter und lähmte mich einen Moment lang. Ich stand am Ende des Durchgangs, die Augen auf den Hinterhof gerichtet. Büsche wiegten sich gehorsam im Windhauch. Das offene Tor quietschte in den Angeln. Ganz langsam trat ich zurück, denn ich traute der Stille nicht. Glaubte nicht, dass ich allein war. Ich hatte schon früher dasselbe gefühlt, und es hatte immer Gefahr bedeutet.
Nora, wir sind nicht allein. Jemand ist hier. Geh zurück!
»Dad?«, flüsterte ich, während meine Gedanken hin und her schossen.
Geh Vee suchen. Du musst weg von hier! Ich finde dich wieder. Beeil dich!
Es war mir egal, was er sagte – ich würde hier nicht weggehen. Nicht, bevor ich nicht wusste, was los war. Nicht bevor ich ihn nicht gesehen hatte. Wie konnte er erwarten, dass ich wegging? Er war hier. Ein Flattern der Erleichterung und nervöser Aufregung stieg in mir hoch, überdeckte die Angst, die ich fühlte.
»Dad? Wo bist du?«
Nichts.
»Dad?«, versuchte ich es wieder. »Ich gehe hier nicht weg.«
Die Hintertür ist offen.
Ich berührte meinen Kopf, fühlte, wie seine Worte dort widerhallten. Etwas war dieses Mal anders an seiner Stimme, aber nicht so auffällig, dass ich den Unterschied hätte benennen können. Etwas kälter vielleicht? Schärfer? »Dad?«, flüsterte ich ganz leise.
Ich bin hier drin.
Seine Stimme war jetzt lauter, ein echter Laut. Nicht nur in meinem Kopf, sondern auch in meinen Ohren. Ich wandte mich zum Haus um, sicher, dass er durchs Fenster gesprochen hatte. Schließlich trat ich vom Gehweg und legte meine Handfläche zaghaft auf die Fensterscheibe. Ich wollte so sehr, dass er es wäre, aber gleichzeitig warnte mich die Gänsehaut, die meine Haut überzog, dass es ein Trick sein könnte. Eine Falle.
»Dad?« Meine Stimme zitterte. »Ich habe Angst.«
Auf der anderen Seite der Scheibe legte sich eine Hand auf meine, fünf Fingerspitzen, die sich mit meinen deckten. Der goldene Ehering meines Vaters steckte am Ringfinger seiner
linken Hand. Mein Herz schlug so stark, dass mir schwindelig wurde. Er war es. Mein Vater war nur Zentimeter von mir entfernt. Lebendig.
Komm herein. Ich tu dir nichts. Komm, Nora.
Das Drängen in seinen Worten erschreckte mich. Ich griff nach dem Fenster, versuchte den Riegel zu finden, wollte ihn so dringend umarmen und daran hindern, mich wieder zu verlassen. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich dachte daran, zur Hintertür zu rennen, konnte mich aber nicht
Weitere Kostenlose Bücher