Bis dass der Tod uns scheidet
nach und rufe Sie morgen an. Lassen Sie mir nur eine Nummer da.«
»Ich ruf dich an.«
Ich sah ihn so böse an wie eine Stechmücke einen Löwen, dann nickte ich und akzeptierte seine Bedingungen.
»Warst du in letzter Zeit am Grab deiner Mutter?«, fragte er.
»Warum?«
»Nur eine Frage, Lenny.«
»Ich könnte dir auch ein paar Fragen stellen, Onkel Harry«, erwiderte ich. »Fragen, die genauso schwer wiegen.«
Statt etwas darauf zu sagen, stand der Diplomat auf und ging zur Tür.
»Ich finde schon den Weg«, sagte er.
Ich hatte nichts dagegen.
6
Die Linie 1 zur Rushhour ist die reinste Stampede. Pendler und andere stehen sich gegenseitig auf den Füßen und tun alles nur Erdenkliche, um dem Gefühl von Gedränge zu entgehen. Junge Leute bilden Grüppchen und reden laut miteinander, um das Kreischen von Stahl auf Stahl zu übertönen. Familien drücken sich aneinander, Arbeiter schlafen, und nahezu jeder hat laute Musik in den Ohren, schaut sich die verpasste Serie vom Vorabend an oder spielt, von Sudoku bis Grand Theft Auto . Dazu kommen noch die Leser, die sich auf ihre Enthüllungsblättchen konzentrieren, auf Romane aus dem 19. Jahrhundert und Comics.
Ich gehe meist zum Bahnsteigende – der letzte Wagen ist häufig der leerste. Aber ich lenke mich nicht ab. Ich mag es, Menschen zu beobachten und zu sehen, wie sie sich nach innen kehren und abwenden, wenn sie sich in einem Gedränge wiederfinden. Man sollte meinen, dass jemand, der beschlossen hat, in einer Stadt wie New York zu leben und die U-Bahn zu nehmen, sein Vergnügen an der dichtgedrängten Gesellschaft anderer hat – aber nein.
Eines Tages ging mir auf, dass die Einsamkeit und Entfremdung während der Rushhour auch nicht anders sind als in so vielen Ehen, die ich beobachtet habe – ein Leben lang im selben Bett und dennoch allein und getrennt.
In der Mehrzahl meiner Scheidungsfälle hatte ich den deutlichen Eindruck, dass ich mehr über das Privatleben des Paares wusste als die beiden selbst.
Die drei Affen , sagte mein Vater immer. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen … Lass das Böse beiseite, und schon hast du einen zivilisierten Proletarier.
Ich kletterte an der 96th Street hinter einem alten Weißen aus der U-Bahn-Station, der jede Stufe einzeln nehmen musste. Seine ausgebeulte grüne Hose wurde von rot-blauen Hosenträgern über einem grauen Wollpullover gehalten. Auf der anderen Seite der Treppe gingen Leute hinunter, ich konnte ihn also nicht überholen.
»Mach schneller, Mann, okay?«, sagte eine Stimme hinter mir, aber ich hatte nicht die Absicht, mich in das Schritttempo des alten Mannes einzumischen.
»He!«, beharrte die Stimme.
Ich blieb stehen, drehte mich um und sah einen Mann um die dreißig vor mir, gekleidet im Stil eines zehn, ja zwanzig Jahre Jüngeren: ein knallrotes T-Shirt mit einer verschlungenen Form darauf, dazu Jeans, die ihm auf den Hüften saßen. Er war weiß, aber das war unwichtig. Er hätte sonst was sein und dennoch dieselben falschen Vorstellungen von seinem Platz in der Welt hegen können.
Erst dachte der Mann, er könne mich einfach beiseitekegeln. Schließlich machte er ja seine Übungen und schaute sich Kung-Fu-Filme an. Also hielt ich ihm meine Pranke entgegen.
»Wenn du Glück hast«, sagte ich, bevor er in sein eigenes Verderben rennen konnte, »wirst du eines Tages alt und schwach genug sein, dass dir ein junger Mann nachbrüllt, du sollst dich beeilen. Wenn nicht, dann legst du dich mit mir an.«
Der Bursche tat einen halben Schritt zurück. Er wollte erst angreifen, überlegte es sich dann aber anders. Ich starrte ihn eine ganze Weile an und ging dann weiter die Treppe hinauf.
Ich liebe die U-Bahn und die Menschen, die sie zusammenbringt. Das ist besser als jede Serie und jeder Pop-Song. Die U-Bahn und ihre Nervenzentren sind wie eine Jazz-Sonate, sie vereinen die Vergangenheit in die Zukunft – all die Generationen, in dissonanter und fast unerträglicher Schärfe zusammengepfercht.
Abgesehen von der Tatsache, dass das Gebäude aus glasierten weißen Ziegeln, nicht dunkelroten, bestand, war nichts besonders auffällig daran. Achtzehn Stockwerke, die fast den ganzen Block einnahmen, dazu zwei Feuerleitern, wie ich sehen konnte – eine vorn in der Mitte, die andere an der Seite, in eine vergitterte Nebengasse hinunter.
Ich schaue als Erstes immer nach den Fluchtwegen. Wegen des Traums, den ich früher jede Nacht gehabt habe und der mir auch jetzt immer mal wieder
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