Bis dass der Tod uns scheidet
ich mich über die Form ihrer Augen und deren Schrägstand in Richtung Nasenrücken. Es sah ganz so aus, als hätte meine straßenschlaue Klientin sich einer Schönheitsoperation unterzogen, um ein wenig … anders auszusehen.
Ich klickte mich in das Kamerasystem ein, das automatisch arbeitete, sobald jemand durch die Eingangstür ins Vorzimmer trat. Acht Sekunden lang machten drei Kameras ein Dutzend Fotos von jedem neuen Besucher.
Die Bilder von jener Chrystal Chambers, die mein Büro betreten hatte, ähnelten sehr der Frau, die Bugs Programm mir zeigte – aber mehr auch nicht. Die Frau, die in mein Büro gekommen war, war zum Beispiel kleiner. Im Netz gab es ein Foto von Mrs. Chrystal Tyler, die in Schuhen ohne Absätze neben ihrem Gatten stand. Sie waren gleich groß, doch das Foto auf meinem Schreibtisch bewies deutlich, dass die Frau, die in mein Büro gekommen war, kleiner war – nicht viel kleiner, zwei, drei Zentimeter vielleicht.
Wegen meiner Statur, knapp eins siebenundsechzig, bin ich, was Größe betrifft, überaus sensibel.
Beide Frauen hatten mit Cyril posiert. Sie waren sicherlich miteinander verwandt, aber sie waren keine eineiigen Zwillinge. Schwestern, Halbschwestern, Cousinen ersten Grades vielleicht. Aber warum sollte die eine in mein Büro kommen und sich als die andere ausgeben? Vor allem mit einer derart wilden Behauptung?
Es gab noch einen kleinen Artikel über ein Achthunderttausend-Dollar-Collier, das Cyrils Mutter Chrystal geschenkt hatte. Das Stück war alt und hatte sogar einen Namen – Indian Christmas. Ein Hinweis auf das Herkunftsland, jahrhundertelang Quelle feiner Rubine und Smaragde.
Langsam fing der Fall an, mich zu interessieren. Ein Großteil dessen, was die Frau in meinem Büro gesagt hatte, stimmte. Sie kannte Cyril Tyler und dem Foto nach zu urteilen sogar gut. Sie kannte intime Details aus dem Leben der richtigen Chrystal Tyler und dem Ableben der vorherigen Frauen.
Wenn all dies stimmte, dann war wohl tatsächlich das Leben von jemandem in Gefahr. War nur die Frage – wessen Leben?
Fast eine Stunde lang saß ich vor dem Bildschirm und versuchte mir alle möglichen Szenarien auszudenken, die vielleicht erklärten, was sich in meinem Büro abgespielt hatte: die toughe junge Frau mit dem vorgetäuschten Milliardärsgatten, die den Platz einer anderen Schwarzen, der eigentlichen Gattin, eingenommen hatte.
Der gesunde Menschenverstand riet mir, die Finger davon zu lassen, doch neunundneunzig Dollar die Stunde rieten mir etwas anderes.
Schließlich griff ich nach dem Telefon und wählte eine Nummer.
Irgendwo im tiefsten Queens sagte eine Frauenstimme. »Der Anschluss von Leonid McGill. Hallo, Mr. McGill … oder Mardi.«
»Ich bin’s, Zephyra«, sagte ich zu meiner selbsternannten persönlichen Telefon- und Computerassistentin.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Boss?«
»Ich komme gerade von Gordo, wo dein Freund den Fußboden vollschwitzt.«
»Charles Bateman ist nicht mein Freund.«
»Charles?«
»So heißt er. Wussten Sie das nicht?«, fragte sie. »Ich hoffe doch nicht, Sie glauben, seine Eltern hätten ihm den Namen Tiny oder Bug gegeben.«
»Charles glaubt, er sei Ihr Freund. Warum sonst sollte er sich zum ersten Mal in seinem Leben in einem heruntergekommenen Boxstudio abschuften?«
»Rufen Sie noch aus einem anderen Grund an, Mr. McGill?«
»Ich möchte, dass Sie versuchen, mir einen Termin bei Cyril Tyler zu besorgen, einem Milliardär, der sehr zurückgezogen lebt.«
»Okay. Ich mache mich gleich daran.«
»Brauchen Sie keine weiteren Informationen?«
»Nein, Sir. Eine meiner Klientinnen ist Masseuse und sehr beliebt in reichen Kreisen. Sie macht Hausbesuche und reist. Sie war bereits dreimal bei Mr. Tyler. Soll ich einen besonderen Anlass für den Besuch nennen?«
»Sagen Sie ihm, es handelt sich um Indische Weihnacht im Juli.«
5
Ich legte auf und wandte mich wieder den Bildern und Artikeln zu, die mir das Netz anbot. Mir gefiel die Bezeichnung »das Netz«, ich kam mir vor wie ein Fischer am Strand eines großen elektronischen Meeres. Ich warf mein engmaschiges Netz aus und zog Schätze an Land, wie zum Beispiel eine Serie von eins achtzig mal eins zwanzig großen Stahlplatten, die im ersten Augenblick rostig und verfärbt wirkten. Doch schon während ich sie betrachtete, verwandelten sich diese geschundenen Platten in Landschaften und Studien, hervorgerufen durch überlegtes und sorgsam ausgeführtes Aufbringen von Beizmitteln, starker
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