Bis dass der Tod uns scheidet
Bücher immer wieder gelesen. Ich glaube, sie waren ihm sehr wichtig.«
»Was für Bücher denn?«
»Keine Ahnung. Bücher über alles Mögliche. Ich hab mal versucht, eins davon zu lesen, aber ich habe noch nicht mal verstanden, worum es geht.«
»Auf Englisch?«
»O ja. Ich kannte die Wörter, aber ich wusste nicht, worum es ging.«
»Würden Sie mir die Bücher verkaufen, Miss Highgate?« Ich nahm an, dass sie etwas Geld durchaus brauchen konnte.
»Vielleicht. Wissen Sie, ich habe sie so lange behalten, weil sie alles waren, was ich noch von Lee hatte. Aber ich schätze, jetzt, wo er fort ist … und Sie gehören ja zur Familie.«
Sie gab mir ihre Adresse, und ich versprach, am folgenden Nachmittag bei ihr vorbeizuschauen.
Nachdem ich aufgelegt hatte, ging ich weiter und zählte, ganz Zen, meine Atemzüge. Als sich meine Gedanken fassen ließen, ertappte ich mich dabei, wie ich an Shawna und die Beschreibung ihrer Mutter dachte: ein wildes Geschöpf, dass sich in die Zivilisation verlaufen hat . Dieses Porträt einer jungen Frau, die ihrer Schwester so ähnlich sah, ähnelte mir und meinem Leben, ebenso Twill und dessen Leben. Wir drei waren Außenseiter, die sich in einer Welt der Konformität gefangen sahen. Wir taten so, als würden wir dazugehören. Wir benahmen uns, als würden wir die Gesetze und Vorschriften einhalten, doch in Wahrheit ignorierten wir alle Verhaltensregeln, die sich uns in den Weg stellten. Wir waren der Grund, warum gesetzestreuen Bürgern bei der Vorstellung von Freiheit unwohl war, denn wahre Freiheit duldet keine Einmischung und zahlt allein dem Verlangen Tribut.
Etwa eine Stunde später fiel mir auf, dass ich acht Blocks zu weit gelaufen war. Etwas hatte mich abgelenkt, aber was dieses Etwas war, war noch immer nicht klar.
Ich sah auf die Uhr, die verabredete Zeit, sechzehn Uhr, war verstrichen, und Shawna hatte sich nicht gemeldet.
19
Als ich nach Hause kam, ging ich direkt ins Esszimmer, weil ich mich erst berappeln musste, bevor ich mit Gordo sprach. Es war okay, ihn um Rat zu fragen, aber ich wollte nicht, dass er sich Sorgen um mich machte. Und die Gedanken, die mir im Kopf herumgingen, waren besorgniserregend.
Normalerweise war das Esszimmer leer, bis wir aßen. Katrina hatte sich angewöhnt, das Abendessen erst dann zu machen, wenn ich nach Hause kam. Sie war zwar wieder zu ihren alten ehebrecherischen Gewohnheiten übergegangen, aber noch erwies sie mir in meinem eigenen Heim Respekt – das gefiel mir.
Ich trat ein und rechnete eigentlich nicht damit, jemanden zu treffen, doch Shelly saß am Hickorytisch und schaute verwirrt.
»Hi, Dad«, sagte das dunkelolivhäutige asiatische Mädchen. Sie kam zu mir und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Wir hatten nicht das kleinste bisschen DNA gemeinsam, selbst wenn wir zwanzigtausend Jahre zurückgingen, aber das wusste sie nicht, und mir war es egal. Blut mag dicker sein als Wasser, aber Familie schlägt beides.
»Hi, Babe«, sagte ich zu Katrinas außerehelichem Kind. »Du wirkst besorgt.«
»Tatyana hat angerufen«, sagte sie.
Ich drehte einen Stuhl um und ließ mich darauf plumpsen. »Ach? Und was hat sie gesagt?«
»Sie wollte nur mit D reden«, antwortete Shelly, zog ihren Stuhl heran und setzte sich zu mir.
Sie streckte die Hand aus und nahm meine Rechte an Daumen und Zeigefinger.
Shell, Twill und Dimitri waren alles, was man von Kindern nur erwarten konnte: Jeder war vollkommen anders, alle waren sie einander eng verbunden.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich.
»Er hat das Telefon mit auf sein Zimmer genommen«, antwortete Shelly, »hat zwanzig Minuten lang telefoniert und ist dann fort.«
»Hat er eine Tasche gepackt?«
Shelly nickte und drückte meine Finger.
Tatyana war Dimitris erste wahre Liebe. Er war fast zweiundzwanzig, aber diese junge Frau hatte ihn an den kurzen Haaren, und ihm gefiel der Schmerz.
»Weiß deine Mutter davon?«, fragte ich.
»Nein. Sie war nicht da, als er weggegangen ist. Ich weiß, welche Sorgen sie sich um D macht, deshalb dachte ich, ich warte lieber und sag es dir.«
Ich tätschelte ihre Hand und holte tief Luft. Meine Tochter sah mir in die Augen.
»Was sollen wir machen?«, wollte sie wissen.
»Wir warten ab, ob D anruft. Deiner Mutter erzählen wir, dass Tatyana wieder aufgetaucht und D mit ihr in den Urlaub gefahren ist. Sie wird sich so darüber aufregen, dass sie sich keine Gedanken um das Schlimmste machen wird.«
Die Angst wich Shelly aus dem Gesicht.
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