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Bis dass der Tod uns scheidet

Bis dass der Tod uns scheidet

Titel: Bis dass der Tod uns scheidet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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aufgehübschten Mietshäuser und Eigentumswohnungen. Die Fenster im Erdgeschoss und ersten Stock waren auf unterschiedliche Weise gesichert. Es gab Gitter und Stacheldraht, waagerechte, senkrechte und sogar diagonale Stangen.
    Ein paar der oberen Fenster standen offen. Im sechsten Stock saß eine Frau auf dem Fensterbrett und sah zu mir herunter, als ich sie anschaute.
    Ich überquerte die Straße und sah, dass die Eingangstür – eher eine Barrikade – vergittert und mit abweisendem grünem Metall beschlagen war. Es gab keinen Knopf und keinen Türklopfer, mit dem man um Einlass hätte bitten können. Das hingesprühte rote Graffito auf der Tür lautete RESERVAT DER FREIHEIT.
    Warum konnte ich nicht einfach einen normalen Fall angeln, eine Frau, die mit dem Hausmeister durchbrennt, ihrem mittelständischen Mann davonläuft, in einem Motel in New Jersey haust und davon träumt, nach Hause zurückkehren zu dürfen?
    Ich klopfte an. Es hörte sich an, als würde ein Dreijähriger auf ein Kissen einschlagen.
    Niemand reagierte, also wartete ich.
     
    Geduld ist eine meiner Stärken. Ich habe schon tagelang in meinem alten Wagen gesessen in der vagen Hoffnung, einen kurzen Blick auf eine ehebrechende Gattin oder das gelbe Hemd eines Kautionsflüchtigen zu erhaschen. Aber Geduld ist nicht meine einzige Stärke, ich kann auch gut einstecken, Andeutungen lesen, jahrelang ohne Liebe oder Entspannung auskommen, und ich kann dem Tod ins Auge sehen, ohne groß zusammenzuzucken. Ich kann nicht nur unter Schmerzen wieder aufstehen, ich kann auch die Schmerzen ignorieren, die andere verspüren. Ich zahle meine Schulden, aber ich handle nur selten aus persönlichen Rachegelüsten.
    Bei all diesen Fähigkeiten konnte ich stundenlang vor dieser ziegelroten Baumschule ausharren, ohne dass Hass oder Verbitterung in mir aufstiegen.
    In meiner Tasche schrie eine einsame Möwe.
    »Hallo, Aura«, sagte ich nach drei herzzerreißenden Schreien. »Ich war heute Morgen bei Winston’s.«
    »Ich habe nur an dich gedacht.«
    Dem Tod konnte ich ins Antlitz sehen, aber bei Aura zitterte mir das Herz.
    »Ach?«, meinte ich, ohne jemanden damit hereinlegen zu können.
    »Ich liebe dich, Leonid.«
    Diese wenigen Worte rissen mir einen tiefen Spalt in die Seele, von der mein Vater behauptete, es würde sie gar nicht geben.
    Ich suchte nach einer Antwort, als ein jüngerer Weißer in verschiedenen Grüntönen gekleidet auf die verstärkte Tür zuging. Ich sage jung, aber er mochte um die vierzig gewesen sein. Die Jugend fand sich in seinen Augen und seiner Haut. Es war etwas Heiteres an ihm – eine Haltung, die zu einem von Robin Hoods sagenhaften Kumpanen gepasst hätte.
    »Ich muss los, Aura«, erklärte ich.
    Ich legte auf, bevor sie darauf antworten konnte. Das war kein bewusster Akt. War dies der Kriegerreflex, von dem mein Vater gesprochen hatte?
    Selbst der Strohhut des Neuankömmlings war grün. Seine Hose war oliv, sein T-Shirt blaugrün. Schuhe und Socken waren kreidegrün.
    Er musterte mich mit braunen Augen. Misstrauen konnte ich in seinem Blick nicht entdecken, es versteckte sich hinter einem Lächeln, das geübt und zugleich natürlich wirkte.
    Er erinnerte mich an Dawkins, das listige Schlitzohr aus Oliver Twist . Also nannte ich ihn in Gedanken auch so.
    Er nickte aus reiner Höflichkeit, zog ein winziges Handy aus der Hemdtasche und telefonierte.
    Wir sahen einander an und warteten fünf Sekunden.
    »Fledermaus an der Tür«, sagte das Schlitzohr, »und noch jemand, der wohl reinwill.«
    »Ich hab geklopft, aber es hat keiner aufgemacht«, erklärte ich dem Schlitzohr, während er das Handy wieder einsteckte.
    »Fledermaus«, wiederholte er.
    »Ein Name oder ein Codewort?«
    »Die lassen niemanden rein.«
    »Und worauf warten Sie?«
    »Ich bin jemand.«
    »Hat denn jemand nicht ab und zu auch mal Besuch?«
    »Die müssen sich vor Polizeispitzeln hüten«, erklärte Schlitzohr. »Der Vorbesitzer des Gebäudes hat keine Erben gehabt. Die jetzigen Bewohner sind Pioniere, die den Besitz beanspruchen, aber die Bullen arbeiten für die Bosse und wollen ihnen ihre Behausung wegnehmen.«
    Da war wieder mein Vater, diesmal hielt er meinem Bruder Nikita und mir einen Vortrag über die Pariser Kommune und über das, was Engels getan hatte, um die Arbeiter zu befreien.
    »Sie sagen ›die‹«, bemerkte ich. »Gehören Sie denn nicht dazu?«
    »Ich habe hier in der Gegend eine Menge Freunde«, erklärte er. »Ab und zu bitten sie mich um einen

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