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Bis dass der Tod uns scheidet

Bis dass der Tod uns scheidet

Titel: Bis dass der Tod uns scheidet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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blieb.
    Manchmal findet sich ein Soldat in einem Krieg wieder, der schon so lange andauert, dass er nicht mehr weiß, wofür er kämpft , hatte Tolstoy McGill mir mal zur Schlafenszeit gesagt. Er hätte mir die Geschichte vom Rotkäppchen erzählen sollen, stattdessen bekam ich die Indoktrinationen eines Anarchisten zu hören. In solchen Zeiten muss er sich nur an den letzten Befehl erinnern und ihn ausführen. Denn wie alles andere auch ist das Leben nur ein Reflex .
    Ich hatte meinen Vater bis zu dem Augenblick gehasst, als Nate Chambers mir sagte, dass Träume wie das Meer sind. Und nun, nach dreiundvierzig Jahren, ging ich endlich ohne jeden Hass, der mir Trost hätte sein können, zu Bett. Meine letzten Befehle waren zurückgenommen, aber noch keine neuen ausgestellt worden.
    Mit diesen Gedanken fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Irgendwann kurz nach vier wachte ich auf und fand Katrina neben mir. Sie träumte friedlich. Ein Seufzer entfuhr mir, aber niemand hörte ihn, also kümmerte es auch niemanden.

20
    Um fünf Uhr neun stand ich auf. Ich nahm meine Sachen aus dem Schrank, schnappte mir Schuhe und Socken vom Boden und schlich mich schwerfällig, aber leise wie ein Bär aus dem Schlafzimmer.
    Twill und ich näherten uns zur selben Zeit der Esszimmertür. Er trug eine schwarze Hose und Schuhe, rote Socken und ein hellgraues Leinenhemd. Sein dunkles Lächeln war mir willkommen, die Stunde seines Auftauchens nicht.
    »Wo bist du gewesen?«, waren die ersten Worte, die mir aus dem Mund kamen.
    »Mit Ginko und seinen Kumpels unterwegs«, antwortete er. »Bist früh auf, Pops.«
    »Deine Mutter macht sich Sorgen«, entgegnete ich.
    »Tut mir leid, Mann.«
    »Du hättest anrufen können.«
    »Das tue ich von jetzt ab, versprochen«, sagte er, und ich nahm es ihm ab. Twill sagte nicht immer die Wahrheit, aber er hatte einen gewissen Ton in der Stimme, wenn er sich zu etwas verpflichtete.
    »Was machst du gerade so, Junge?«
    »Nix. Hab nur ’n bisschen Spaß.«
    Er sah mich an, und ich zog die Schultern hoch. Er war der letzte Kämpfer, den ein Boxer wie ich im Ring treffen wollte. Er hatte zwar keinen sonderlichen Wumms, aber er konnte dich die ganze Nacht vermöbeln, und du würdest nichts treffen als Luft.
     
    Ich fuhr mit dem Taxi zum Frühstücken in Winston’s Diner – vielleicht würde ich mit etwas Glück einen Blick auf Aura erhaschen. Ich wusste, dass sie irgendwann vor der Arbeit hereinschneite und sich einen Kaffee holte – meist gegen sieben.
    Doch die Stunde kam und ging, und nur die New York Times leistete mir Gesellschaft. In Queens war ein Mann festgenommen worden, der in seinem Keller eine Düngerbombe zusammengebastelt hatte. Er hatte vorgehabt, den ganzen Block in die Luft zu jagen. Das hätte er auch geschafft, wenn der Kerl, der die Gasuhren ablas, nicht ein paar verräterische Spuren im Müll vor der Garage gefunden hätte.
    Die größte Naturkatastrophe in der Weltgeschichte ist das menschliche Gehirn. Schafft uns ab, und sofort herrscht überall das Paradies.
    »Bitte schön«, sagte die strohblonde Kellnerin vom Vortag.
    Ich hatte Koteletts bestellt, einen Stapel Haferpfannkuchen, zwei Spiegeleier, von beiden Seiten gebraten, und Bratkartoffeln.
    Ich aß mein Giftessen mit scharfer Sauce, Ahornsirup und schwarzem Pfeffer – und die ganze Zeit über beobachtete ich ihren Tänzerinnenkörper, der sich vom Tresen zum Tisch bewegte und vom Tisch in die Küche.
    In meiner Brust herrschte eine Leere, die Nate Chambers dadurch hervorgerufen hatte, dass er mir den Hass herausgerissen hatte. Kein Essen, kein Lustgefühl, konnte diese Leere ausfüllen.
    »Sonst noch etwas?«, fragte mich die Kellnerin.
    »Nein«, entgegnete ich und schnitt das Wort so kurz ab wie möglich.
    Ich wollte sie schon fragen, ob sie am Abend mit mir ausgehen würde. Ich brauchte etwas, aber sie war es nicht.
    Die Rechnung belief sich auf einundzwanzig Dollar sechsundvierzig. Ich legte einen Zwanziger und einen Zehner unter die Rechnung und hoffte, dass sie mich vielleicht beim nächsten Mal wieder nach meinen Wünschen fragte.
     
    Das rote Ziegelgebäude nahm den ganzen mittleren Abschnitt des südlichen Blocks der Avenue D nördlich der 1st Street ein. Von der Straßenecke aus entdeckte ich die schlanken weißen Bäume auf dem Dach.
    Ich näherte mich dem siebenstöckigen Gebäude von der anderen Straßenseite und bemerkte sofort ein paar Dinge. Es ähnelte eher einer Festung, mehr als die benachbarten,

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