Bis die Daemmerung uns scheidet
auf den Spiegel an der Wand. Sie sah furchtbar aus – dunkle Ringe unter den Augen, zerzauste Haare, fahle Haut. Aber sie fühlte sich besser.
Denn sie hatte jetzt eine Idee, was sie als Nächstes tun konnte.
Bestimmt nicht ungefährlich. Aber abzuwarten, ob Shane seine Meinung änderte, war noch schlimmer als Folter.
Claire eilte zurück in ihr Zimmer, schnappte sich ein paar Klamotten, duschte in Rekordzeit, fasste ihr schulterlanges Haar zu einem nachlässigen Knoten zusammen und rannte die Treppe hinunter und zur Hintertür hinaus, ohne sich die Zeit für einen Kaffee zu nehmen. Allerdings nahm sie den Rucksack mit den Büchern mit, hauptsächlich weil er ihren Geldbeutel enthielt und ein paar möglicherweise nützliche Accessoires, um Vampire abzuwehren.
Denn sie würde jetzt den Zauberer aufsuchen. Nicht Myrnin … den echten Zauberer.
»Wie bitte?«, sagte Amelie. »Du platzt hier ohne Termin herein, in mein Büro, und erwartest, dass ich ohne ausreichende Begründung deiner Bitte nachkomme? Das sieht dir nicht ähnlich, Claire. Überhaupt nicht.«
Ungeachtet der Tageszeit sah Amelie kühl, frisch und überirdisch schön aus. Ihre Kleidung war heute blassblau, gerade und dezent geschnitten, auch wenn sie sich dazu herabgelassen hatte, Hosen zu tragen. Um ihren Hals lag sogar Perlenschmuck. Und das morgens um sechs.
Claire stand, weil sie nicht dazu aufgefordert worden war, auf einem der Sessel aus dickem Leder Platz zu nehmen. Außerdem war ihr gar nicht nach Sitzen. Es war ein wenig knifflig gewesen, in Amelies Büro am Founder’s Square einzudringen. Sie hatte keine Portale benutzen wollen, denn uneingeladen beim Großen Vampirboss reinzuschneien (und dann auch noch mit einem Rucksack voll Antivampir-Ausrüstung) war als Überlebensstrategie nicht gerade zu empfehlen. Aber an den verschiedenen Wachen und Privatsekretärinnen vorbeizukommen, war auch nicht einfach gewesen. Amelie hatte eine Vampirin angeheuert, die an einem Schreibtisch vor ihrem Büro saß. Auf ihrem Namensschild stand Bizzie O’Meara und sie schien ihren Job sehr ernst zu nehmen. Jedenfalls war sie Notfällen gegenüber nicht besonders aufgeschlossen.
Amelie hatte ihre Tür aufgemacht und verärgert herausgeschaut, weil sie solchen Lärm gemacht hatten. Dann hatte sie Claire hereingewunken. Was jedoch nicht bedeutete, dass Claire willkommen war. Nur dass sie sich aufgedrängt hatte. »Nun?«, fragte Amelie jetzt. Ihr Tonfall enthielt eine eisige Schärfe, in der eine unmissverständliche Drohung mitschwang. »Ich verlange eine Erklärung.«
»Das geht nicht«, sagte Claire und rückte den Rucksack auf ihren Schultern zurecht. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich ermittle gerade etwas. Wenn ich das, was ich weiß, bestätigt finde, erzähle ich es Ihnen. Aber um Beweise sammeln zu können, brauche ich Zugang zu jemandem, der wegen Verbrechen gegen die Stadt Morganville im Gefängnis sitzt.«
Amelie zog die Augenbrauen um etwa einen Millimeter nach oben. »Ist das so. Die Antwort darauf ist natürlich Nein.«
»Aber ich brauche …«
»Häftlingen, die aufgrund genau dieser Anschuldigung einsitzen, ist kein Besuch gestattet, Claire. Sie bekommen auch keinen Hafturlaub. Sie gehören ihr Leben lang mir und ich kann mit ihnen machen, was ich will. Außerdem weißt du ja gar nicht, ob dieses … Individuum … überhaupt noch am Leben ist.«
Damit hatte sie auf Furcht einflößende Art recht. Claire zögerte, dann sagte sie: »Kim.«
»Kim«, wiederholte Amelie, als hätte sie keine Ahnung, wen Claire meinte. »Ach, die. Nun, ja, sie lebt noch – ich würde wohl kaum jemanden hinrichten lassen, der noch so jung ist, auch wenn sie unangenehm und widerspenstig ist. Sie bleibt, so lange es mir beliebt, in Haft. Bis sie mir bewiesen hat, dass sie es verdient, das Tageslicht wiederzusehen.«
»Sie kann online Dinge tun, die nicht einmal Sie oder Myrnin herausfinden könnten, und das ist ziemlich selten. Ich brauche ihr Fachwissen.« Claire lief Gefahr, Dinge preiszugeben, und das wusste sie. Sie hatte keine Ahnung, ob Frank die Gründerin anlügen würde oder ob er das überhaupt konnte. Sein menschliches Gehirn mochte vielleicht für seinen Sohn lügen, aber was war mit dem Rest von ihm? Zumindest teilweise funktionierte er auf der Basis von Elektronik und Programmierung. Sie konnte sich nicht sicher sein. »Ich brauche ihre Hilfe, um jemanden zu finden.«
»Hat das etwas mit meinem Vater zu tun?«
Das war eine extrem gefährliche
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