Bis die Daemmerung uns scheidet
das Schlimmste war: Er hatte niemandem davon erzählt.
Eve würde ihn umbringen. Und wenn Eve es nicht tat, würde sie das selbst übernehmen, beschloss Claire. Der Gedanke daran, dass Michael gerade jetzt vermisst wurde, zog ihr völlig den Boden unter den Füßen weg. Michael war immer der Fels in der Brandung gewesen. Selbst bei ihrer ersten Begegnung, als er noch halb ein Geist gewesen war, war er der Ruhigste und Tüchtigste ihrer Gruppe gewesen.
Es war ein Fehler gewesen, jetzt, in dieser Situation, alleine loszuziehen. Und zwar ein großer.
Amelie musste ihrer Miene irgendetwas entnommen haben, denn sie sagte: »Lass meinen Wagen vorfahren, Bizzie. Die übliche vollzählige Besatzung der Wachen.«
»Sofort, Gründerin.«
Amelie erhob sich. Claire starrte sie verwirrt an, bis sie sagte: »Ich begleite dich natürlich. Und du wirst mir sagen, wohin Michael deiner Meinung nach gegangen sein könnte, denn ich werde nicht noch einen meiner Leute an dieses Mysterium verlieren.«
Claire widerstand dem Impuls, Ja, Gründerin zu sagen, und folgte ihr schweigend zu ihrer Limousine.
Mit üblicher vollzähliger Besatzung musste Amelie wohl mehr Vampire als auf einer Dracula-Versammlung gemeint haben, denn neben Amelie und ihrem Fahrer kamen noch zwei schweigende Bodyguards in Anzug und Sonnenbrille mit. In einem Wagen mit stark getönten Scheiben folgten ihnen vier weitere. Amelie lehnte sich mit gefalteten Händen zurück und ignorierte die Anwesenheit der Bodyguards – allerdings war sie auch in einer Zeit aufgewachsen, in der Bedienstete nichts weiter als wandelnde Möbelstücke gewesen waren. Trotzdem saß sie da wie eine Lady, die Knie sittsam zusammengepresst, obwohl sie Hosen trug. »Nun«, sagte sie, »du wirst mir jetzt alles erzählen, was du mir vorhin nicht sagen wolltest. Wir haben den amüsanten, amateurhaften Teil dieses Problems jetzt hinter uns gelassen. Wenn du weißt, wo mein Vater ist, oder auch nur den geringsten Verdacht hast, wirst du mir das jetzt sagen.«
Claire wurde heiß und elend. Sie hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen – was zweifellos nicht nur ein Gefühl war. Sie kniff die Augen zu und sagte: »Wenn ich Ihnen alles erzähle, müssen Sie mir etwas versprechen.«
Unheilvolles Schweigen, nur untermalt von dem leisen, monotonen Geräusch der Wagenräder auf dem Asphalt der Straße. Claire hatte keine Ahnung, wohin sie fuhren, und stellte fest, dass sie genau dasselbe getan hatte wie Michael: Sie war aufgebrochen, ohne jemandem zu sagen, wohin sie ging. Auf diese Weise konnte es rasch passieren, dass man einfach verschwand. Sie riskierte einen Blick zu Amelie und sah denselben erwartungsvollen, abwartenden Gesichtsausdruck wie zuvor. Noch keinen Zorn.
Dafür lächelte Amelie ganz leicht. Wenn Claire sie nicht so gut gekannt hätte, wäre es ihr überhaupt nicht aufgefallen. »Immer bittest du mich um ein Versprechen, Claire. Manchmal ist das sehr schmeichelhaft, als würdest du einfach davon ausgehen, dass ich ehrenhaft genug bin, Versprechen zu halten.«
»Wie steht es heute damit?«, fragte Claire.
Amelie neigte den Kopf. Dies war allerdings nicht als Ja zu interpretieren, das konnte Claire am kalten Glitzern ihrer Augen erkennen. »Es ist nur … falls Shane etwas damit zu tun hat, dann nur, weil er geblendet wurde. Von Gloriana. Nicht, weil er das wirklich gewollt hat. Und er würde niemals Bishop helfen. Das wissen Sie.« Ihre Worte waren übereilt und selbst in ihren eigenen Ohren klangen sie völlig unzusammenhängend.
Amelie richtete sich auf, lehnte sich in ihrem Sitz zurück und sagte: »Von Anfang an.«
Claire versuchte es. Sie dachte darüber nach, ein paar Dinge zu verschweigen, aber die Wahrheit war, dass sowieso alles eher früher als später ans Licht kommen würde. Und Amelie ins Gesicht zu lügen … na ja, das war keine gute Strategie. Manchmal war Amelie verständnisvoll. Trotzdem schauderte Claire, wenn sie Shane erwähnen musste. Sie musste immer daran denken, wie schlimm es gewesen war, als er des Mordes an einem von Amelies Vampiren angeklagt war, als er gefangen war und verurteilt und sie sich völlig ohnmächtig gefühlt hatte.
Da war es wieder – dieses dunkel aufwallende, erstickende Gefühl absoluter Hilflosigkeit.
Amelie gab keine Kommentare ab und zeigte keine körperlichen Reaktionen auf das, was Claire ihr erzählte. Sie sah Claire nicht an, sondern hatte den Blick auf die Umgebung hinter der getönten Scheibe gerichtet, die für ihre
Weitere Kostenlose Bücher