Bis die Daemmerung uns scheidet
Frage. »Nicht direkt«, sagte Claire zögernd. »Aber es könnte helfen.«
»Hmmm. Und du glaubst, sie würde dir tatsächlich Auskunft geben?« Amelie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und sah jetzt hundertprozentig wie die Frau aus, die hier das Sagen hatte. »Ich glaube nicht, dass du diese Kim besonders gut kennst. Sie hasst dich ganz besonders, mehr als jeden anderen. Fast noch mehr als mich, glaube ich.«
»Wegen Shane. Ja, ich weiß. Sie mag ihn.«
Amelie zuckte nur mit den Schultern, an menschlichen Gefühlen hatte sie absolut kein Interesse.
»Ich glaube, sie wird mir dabei helfen. Bitte. Lassen Sie mich mit ihr sprechen. Ich brauche sie wirklich.«
Amelie trommelte in einem langsamen Rhythmus mit ihren blassrosa lackierten Fingernägeln auf den Schreibtisch und starrte Claire aus diesen beunruhigend grauen Augen an. Ihr Telefon summte, aber sie ignorierte es. »Mir missfällt, dass du annimmst, du hättest freien Zugang zu meinem Büro, Claire. Haben wir uns verstanden?«
»Ja.«
Sie trommelte weiter. Claire konnte nicht aufhören, auf diese langen, wohlgeformten bleichen Finger mit ihren messerscharfen (und perfekt manikürten) Nägeln zu schauen. Was womöglich genau das war, was Amelie bezwecken wollte.
»Also gut«, sagte Amelie. »Ich gewähre dir fünf Minuten lang Zugang. Wenn du diese Person dazu bringen kannst einzuwilligen, erlaube ich, dass sie dir bei diesem … Projekt hilft. Aber sie darf ihre Zelle nicht verlassen. Haben wir uns verstanden?«
»Ja. Vielen Dank.«
»Bedanke dich nicht bei mir«, sagte Amelie. »Du wirst nicht allein gehen.« Sie drückte auf einen Knopf am Telefon, das inzwischen aufgehört hatte zu summen, und sagte: »Bizzie. Bitte hol sofort Michael Glass in mein Büro.«
»Ma’am«, sagte Bizzies tonlose Stimme. »Oliver ist für sie am Telefon.«
»Oliver kann warten. Ich will Michael hier haben. Schick ihm einen Wagen.«
»Ja, Madam Gründerin.«
»Du, Claire«, sagte Amelie, während sie den Finger von dem Knopf nahm, »bleibst hier sitzen und bist still. Dein Verhalten verärgert mich sehr. Mir ist klar, dass es an dieser Wut liegt, die in euch jungen Leuten steckt, dass ihr euch jeglicher Autorität widersetzt, aber ich kann das nicht dulden. Nicht in meiner Gegenwart.«
»Es liegt nicht …« Ach, was sollte das überhaupt bringen? Claire ließ ihre Büchertasche auf den Boden fallen und setzte sich mit verschränkten Armen auf einen der Sessel. Sie wusste, dass das verteidigend wirkte. Aber das war ihr gleichgültig. »Ich widersetze mich Ihnen nicht. Es ist nur so, dass ich Gewissheit haben muss, bevor ich Ihnen davon erzähle.«
»Das ist eine ziemlich interessante Anmaßung, da ich des Geschenks deiner Expertise womöglich überhaupt nicht bedarf«, sagte Amelie. »Zum Beispiel ist mir sehr wohl bewusst, dass mein Vater, Bishop, vermisst wird. Darüber hinaus weiß ich, dass sich mehrere Vampire, die ihm einst treu ergeben waren, seltsam verhalten, und andere, die ihm nicht ergeben waren, ebenfalls vermisst werden. Mir ist bewusst, dass Glorianas Aufenthalt in der Stadt für viele … beunruhigend ist. Vielleicht nicht unbedingt für Oliver.« Letzteres klang ein wenig scharf. Seltsam. »Hat Gloriana vielleicht ihre Tricks bei deinem Shane angewandt?«
Das kam der Wahrheit schon viel zu nahe. »Oliver sagt, dass sie in dieser Hinsicht kein Interesse an Menschen hat«, antwortete Claire. Das stimmte. Aber es beantwortete nicht Amelies Frage. »Sie war hinter Michael her, das sagt zumindest Eve.«
»Ja, das weiß ich. Aber anscheinend wurde das ohne wesentliches Blutvergießen beigelegt.« Wieder trommelten die Fingernägel. Als Claire Amelie ansah, merkte sie, dass die Vampirin aus dem getönten Fenster blickte, das die aufgehende Sonne abmilderte. Ein geistesabwesender Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Manchmal sah Amelie so jung aus wie Claire. Wahrscheinlich war sie erst um die zwanzig gewesen, als sie zu dem wurde, was sie jetzt war. Aber im Moment sah man ihr an, wie alt sie tatsächlich war: Das Gewicht von Jahrhunderten lastete auf ihrem glatten, faltenlosen Gesicht. »Du weißt genau, wie gefährlich diese Stadt ist, Claire. Was du nicht verstehst, zumindest nicht vollkommen, ist, dass sie von meinem Willen zusammengehalten wird. Ohne meinen Einfluss würden die Vampire um die Vormacht kämpfen und die Menschen auf den Straßen abgeschlachtet. Nicht allen von meiner Art ist es vergönnt zu verstehen, dass ein solches Verhalten …
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