Bis du erwachst
ihren schläfrigen Sohn im Arm. Michael hatte nicht weggehen wollen, aber er musste einräumen, dass er sich tödlich langweilte. Wie sein Neffe hungerte er nach irgendeiner Form von Anregung, aber im Gegensatz zu George war er zu alt, um sich zusammenzurollen und eine Runde zu schlafen, nachdem er sich damit abgefunden hatte, dass das mit der Anregung wohl nichts mehr werden würde.
«Ich geh mal kurz nach draußen», sagte Michael.
«Okay. Wenn du zurückkommst und wir sind nicht mehr da, schaust du am besten in einer der Kabinen nach.»
Als er nach draußen trat, musste er nach Luft schnappen – einmal, weil es so kalt war, und dann, weil eine winzig kleine Frau in ihn hineinrannte und ihm dabei den Absatz in den Fuß bohrte.
«Autsch!», beschwerte er sich.
«Passen Sie doch auf!», knurrte sie. Wie unhöflich, dachte Michael.
Cara musste vor dem Aufzug warten, bückte sich und begutachtete den Schaden an ihren grünen Wildleder-Slingpumps. Der verdammte Idiot konnte froh sein, dass sie ihm nicht die Rechnung für den abgestoßenen Schuh präsentierte. Grünes Wildleder und schmutzige Turnschuhe passten einfach nicht zusammen. Außerdem hatte sie gerade Wichtigeres im Kopf, zum Beispiel diesen Michael Johns. Wer war er, und warum lag seine Visitenkarte in einer Hülle mit den «wichtigen Dingen»? Inzwischen wusste Cara, dass sie Lena nicht so gut zugehört hatte, wie sie es hätte tun sollen, aber von einem anderen Mann war nie die Rede gewesen, da wäre sie sicherlich aufmerksam geworden. Nein, Lena war nicht der Typ für Affären. Millie schon. Lena nicht.
Sie trat in Lenas Krankenzimmer, wo Kitty ihr gerade das Haar kämmte. Es roch nach Zitronengras.
«Was tust du da?», fragte Cara erschrocken.
«Ich richte deiner Schwester bloß die Haare. Ich wollte ihr etwas Gutes tun.»
«Aber das ist meine Aufgabe!», fuhr sie auf und bedauerte es sofort, als die Worte heraus waren.
Kitty legte den Kamm weg und schüttelte den Kopf. «Tut mir leid, Liebling, ich hab nur gedacht …»
«Ach, ist auch egal», meinte Cara. Es war irgendwie ungehobelt, sich darüber zu streiten, wer Lena die Haare kämmen durfte. Jeder hatte wohl das Bedürfnis, sich bei Lena irgendwie nützlich zu machen. «Hast du Millie gesehen? Ich müsste mit ihr sprechen.»
«Sie ist auf dem Arbeitsamt. Auf dem Rückweg wollte sie hier vorbeischauen. Kann ich dir vielleicht helfen?»
Cara sah ihre Mutter an und öffnete den Mund. Um ihr von diesem Michael Johns zu erzählen, sie zu fragen, ob es wohl in Ordnung sei, einem Mann zu trauen, dessen Nachname auch als Vorname benutzt werden konnte (Curtis konnte man auch als Vornamen verwenden, aber das war etwas anderes). Um mit ihr zu überlegen, warum Lena seine Visitenkarte bei ihren «wichtigen Dingen» aufbewahrt hatte. Um sie zu fragen, ob sie diesen Typen ihrer Meinung nach anrufen und ihm von dem Unfall erzählen sollte.
Aber stattdessen beschränkte Cara sich auf ein knappes «Nein, schon gut».
Millie war auf dem Rückweg vom Arbeitsamt. Sie war niedergeschlagen. Die ganze Prozedur war ein einziger Albtraum gewesen. Wie üblich gab es nur mies bezahlte Stellen, und der Berater, ein sarkastischer, blutjunger Typ, erklärte ihr auch noch, es werde allmählich Zeit, dass sie einen Job fand. Das wusste sie selber, sie war sich nur immer noch nicht sicher, welche Art von Job sie eigentlich suchte. Irgendwas mit Mode vielleicht, aber nicht als Verkäuferin. Irgendetwas Schickes, was Spaß machte, aber nicht zu anstrengend war. Zum Kuckuck, vielleicht gehörte sie zu den Leuten, dienie herausfanden, was sie einmal werden wollten! Sie war nicht wie ihre Schwestern. Lena ging darin auf, Kindern zu helfen, und Cara liebte es, andere herumzuscheuchen. Sie mochte beides nicht. Außerdem gab es ja nun nicht gerade die große Auswahl an Jobs.
Sie ging an einer Horde junger Männer vorbei, die bei den Mülleimern herumstanden, ignorierte ihr Gepfeife und lächelte der alten Dame zu, die wie jeden Tag in makellosem Kostüm und mit zwei kleinen Hündchen an der Leine die Under Hill Road entlangging. Bald kam sie an dem vertrauten großen viktorianischen Haus an, in dem sie aufgewachsen war. Als sie in ihrer Tasche nach den Schlüsseln suchte, entdeckte sie einen roten Micra, der neben einem Wagen mit Parkkralle stand, und als sie das wohlbekannte Nummernschild sah, tat ihr Herz einen Satz.
Sie linste durchs Fenster, wollte ihren Augen nicht trauen, wünschte sich, sie hätte an
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