Bis du erwachst
Lena, und er saugte jede Note, jeden Beat in sich auf, ließ sich davon verzaubern und an einen anderen Ort tragen.
Er hatte noch nie ein Musikstück gehört und dabei so genau auf den Text geachtet. Auf den Refrain vielleicht, aber doch nicht auf den ganzen Text! Nie im Leben. So was machten doch nur Frauen. Das mit dem Verlieben war klar, aber da war noch die Stelle, in der es hieß, dass es keine Versprechungen für morgen gäbe. Er war sich nicht sicher, wie lange Lena schon mit Justin zusammen war, ob er schon vor dem Song da war, aber er nahm an, dass die Worte für sie eine besondere Bedeutung hatten. Er wusste, dass es nichtsbringen würde, die ganze Nacht darüber nachzugrübeln, aber es konnte nicht schaden, darüber nachzudenken, was der Text eigentlich für
ihn
bedeutete.
Oberflächlich betrachtet, bedeutete er: «Tolle Frau singt von der Liebe.» Aber wenn man genauer hinhörte, ging es eher darum: «Tolle Frau singt davon, dass sie nicht darauf warten will, bis etwas geschieht. Sie will keine Minute mehr warten.» Die Liebe wurde nur erwähnt, damit sich die Platte verkaufte. Der Song war bezaubernd, bewegend, süß und hoffnungsvoll zugleich. Schnell. Langsam. Dringlich. Fragend. Es war, als redete Lena mit ihm. Als erzählte sie ihm, wie sie über ihr Leben dachte. Als ermahnte sie ihn, nicht dieselben Fehler zu wiederholen.
Er würde sie nicht enttäuschen. Nein: Noch wichtiger war, dass er
sich selbst
nicht enttäuschen würde.
Nie mehr.
Frisch strömte die kalte Luft in seine Lungen. Michael tat etwas, woran er früher keinen Gedanken verschwendet hatte: Er joggte. Er joggte an den Läden in der Lordship Lane vorbei und schaffte es den ganzen Sydenham Hill hinunter. Er ignorierte den leisen Schmerz in seinen Knien und das Seitenstechen. Er wollte den Hügel wieder hinaufkommen, und das würde er auch – obwohl er kurz davor war, sein Frühstück wieder von sich zu geben. Sein T-Shirt klebte ihm schweißnass an der Brust, und er hörte kaum noch etwas durch seine Kopfhörer, aber er war fest entschlossen, nicht eher aufzuhören, bis er oben auf dem Hügel stand.
Das war jetzt eine persönliche Angelegenheit.
Michael beugte sich vor und umklammerte die Knie. Er hatte es geschafft. Es war ein Sieg. Unbedeutend vielleichtfür andere, aber für ihn ein Riesentriumph. Gestärkt durch das Adrenalin, das durch seinen Körper rauschte, sah er sich um. Ein Paar hielt Händchen, ein Mann führte zwei unerzogene Deutsche Doggen spazieren, eine Frau linste in ein Schaufenster, und zwei Frauen amüsierten sich über einer Zeitschrift. Michael war bereit, an all dem wieder teilzunehmen. Wieder zu leben. Er wollte nicht mehr darauf warten, dass sein Leben begann. Was für einen Sinn hatte es denn, auf etwas zu warten, was es gar nicht gab? Und worauf genau wartete er überhaupt? Ein Haus, ein Auto, eine Beförderung?
Was passiert, während man auf all diese Dinge wartet? Was passiert, während man träumt?
Das Leben war zu kurz. Lena, wie sie da in ihrem Krankenhausbett lag, war der Beweis. So etwas konnte jedem passieren, auch ihm! Und so gelobte er sich etwas, als er schwitzend und keuchend da oben auf dem Hügel stand:
ER WAR BEREIT, WIEDER MIT DEM LEBEN ZU BEGINNEN.
Und das hatte er Lena Curtis zu verdanken.
16
«Hier, Michael, für Sie», sagte Kitty und reichte ihm den Styroporbecher mit Wasser. Diesmal trug sie eine tiefrote Kurzhaarperücke, die er für jemanden in ihrem Alter ein wenig überkandidelt fand – und doch kam sie irgendwie damit durch. Das es eine Perücke war, wusste er nur, weil sie es ihm verraten hatte. Kitty hatte ihm von all den unglaublichen Orten erzählt, an denen sie schon gewesen war auf ihren Reisen rund um die Welt – Las Vegas, Indien, Australien. Auch wenn sie ein bisschen sehr redselig war, nötigte ihr Mut ihm Respekt ab. Er war nur halb so alt wie sie und noch nicht über die Costa del Sol hinausgekommen, und selbst das lag schon zehn Jahre zurück.
«Woher haben Sie denn das Geld für all diese Reisen genommen?», fragte er.
Kitty schloss die Augen, und einen schrecklichen Moment lang glaubte er, sie würde in Tränen ausbrechen. Stattdessen schluckte sie hart. «Sagen wir einfach, dass ich ein paar Sachen getan habe, die vielleicht nicht ganz durchdacht waren.» Sie rückte näher. «Haben Sie je etwas getan, Michael, von dem Sie glaubten, dass Sie damit jemandem helfen könnten, den Sie lieben, nur um festzustellen, dass Sie ihm damit das Leben nur
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