Bis du erwachst
hatte «Mum» gesagt. Aber Kitty reagierte nicht. So weit, so gut.
«Sie kann doch nicht Ihre Mum sein. Dazu sieht sie viel zu jung aus!», sagte das Mädchen.
«Das sage ich ihr auch immer», meinte Kitty und lächelte kokett.
Millies Lächeln erlosch.
«Aber sie ist meine Tochter, und darauf bin ich stolz», setzte Kitty hinzu.
Da kehrte Millies Lächeln wieder.
Eine halbe Stunde später trockneten ihre Nägel unter einem winzigen Lüfter. Kittys rot-gold-grüne Mixtur glänzte im Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel. Da klingelte die Türglocke. Eine neue Kundin betrat den Laden. Im selben Moment erkannten sie Cara, die auf ihren High Heels zur Theke stöckelte und sich erkundigte, ob ein Termin frei sei für eine Maniküre.
«Cara!», rief Kitty.
«Kitty», erwiderte Cara, ganz offensichtlich weitaus weniger begeistert. Sie wirkte erschöpft, noch schlimmer als zuvor. Irgendetwas war los mit ihr, und Millie machte sich jetzt Sorgen. Hatte es mit Ade zu tun? Hatten sie sich getrennt? Neulich Abend im A&R hatte sie Spannungen zwischen den beiden gespürt, das hatte sie sich nicht eingebildet. Millie schauderte bei der Vorstellung. Vor ein paar Monaten wäre sie noch froh gewesen, wenn Ade Cara mal eine Lektion erteilt hätte. Damals war Millie sehr viel eifersüchtiger wegen der beiden «perfekten» Lebenspartner ihrer Schwestern gewesen, als sie es zuzugeben gewagt hätte. Aber jetzt fand sie die Vorstellung, die beiden könnten sich trennen, einfach unerträglich. Ihre Schwester tat ihr leid.
«Haben Sie einen Termin frei für einmal Waschen und Schneiden?», fragte Cara.
«Cara, für Sie natürlich immer. Wie wäre es in zehn Minuten», erwiderte eine Friseuse. «Kennen Sie sich?», erkundigte sie sich dann neugierig.
«Das ist meine andere Tochter», erwiderte Kitty.
«Ach, reizend. Na, das ist ja schön, dass Sie alle drei hier zusammen sind.»
«Ich habe noch ein Mädchen. Lena. Sie … also, der geht es im Moment nicht so gut.»
«Oh, das tut mir leid», meinte die junge Frau und wandte sich dann einer anderen Kundin zu.
Millie schaltete ihr Trockengerät aus und blickte auf ihre French Maniküre, die in starkem Kontrast zu Kittys grellem Kunstwerk stand.
«Sieht gut aus», meinte Cara.
«Tu mir einen Gefallen und nimm ein wenig Geld aus meiner Börse. Ich will nicht riskieren, dass die Nägel gleich wieder zerkratzen», bat Millie.
Cara kramte in Millies Tasche herum und holte dreißig Pfund heraus.
«Nein, ich brauche sechzig Pfund. Ich zahle für Mum mit.»
Millie wartete auf eine Reaktion auf das Wort «Mum», aber es kam nichts. Cara muss es wirklich schlecht gehen, dachte Millie. Wenn ihr nicht einmal auffällt, dass sie nicht gegen «Mum» protestiert …
Anders als Cara sich erhofft hatte, half die neue Frisur kein bisschen. Sie fühlte sich immer noch beschissen.
Millie mit ihrer neuen Lebensfreude hatte versucht, sie aus ihrem Schneckenhaus hervorzulocken, aber ohne Erfolg. Ade war vor beinahe zwei Wochen ausgezogen und immer noch nicht wiedergekommen. Sie sahen sich in der Bar und gingen höflich, sogar freundlich miteinander um, aber es war, als wartete er darauf, dass sie nachgab. Und sie fand, dass er dasselbe tun sollte. Die Wohnung hatte sich noch nie so leer angefühlt. Sie war ständig nur mit ihm zusammen gewesen, aber irgendwie war das nie ein Problem gewesen. Sie vermisste Ades Stimme, die Unterhaltungen über ihren Tag in der Bar, die Diskussionen, was sie sich zum Essenkochen sollten, und dass Ade sie kitzelte, wenn sie versuchte fernzugucken. All ihr Lachen, all ihre Streits, all ihre Freude gab es nur noch in ihrer Erinnerung. Sie setzte sich auf ihr farbverkleckstes «künstlerisches» Sofa und lächelte. Sie erinnerte sich gut daran, wie sie es gekauft hatten, wie sie Ade überredet hatte, dass es eine gute Idee sei, über tausend Pfund für ein Sofa auszugeben, das nicht mal mit Leder bezogen war. Am Ende hatte sie ihn mit der altbewährten Methode des Schmollens – Unterlippe vorgeschoben, gesenkter Blick – weichgekocht. Es funktionierte jedes Mal. Aber auch ohne Schmollen hatten Cara und ihre Bedürfnisse für ihn immer an erster Stelle gestanden.
Sie dachte daran, ihn bei seiner Mutter anzurufen. Die hatte Cara noch nie ausstehen können und war vermutlich froh, ihren Sohn wieder bei sich zu Hause zu haben, um ihm dort allen möglichen Unsinn einzureden – zum Beispiel, dass er es sehr viel besser treffen konnte. Vermutlich hatte sie
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