Bis einer stirbt
nicht selbstverständlich.
»Aber du weißt nicht genau«, sagte er etwas später, »ob morgen Vormittag richtig ist.«
»Na klar ist das richtig«, sagte ich. »Er ist zwar manchmal ein bisschen blöd, aber ganz sicher will er keine hundert Jahre warten. Statt in der Schule bin ich morgen ab acht auf der Schröder-Werft. Wenn ich dort bis mittags warte, können wir uns nicht verfehlen.«
»Darf ich mitkommen?«, fragte Nils.
Ich nickte. »Und jetzt?« Ich warf einen enttäuschten Blick auf den Mülleimer.
»Hamburger?« Nils grinste. Wortlos schnappten wir unsere Jacken.
Als er erwacht, glaubt er zunächst, tot zu sein. Es ist eine Dunkelheit um ihn, wie er sie so noch nie erlebt hat, ganz gleich, ob er die Augen offen oder geschlossen hält. Die Finsternis ist vollkommen. Wenn er nicht plötzlich blind geworden ist, muss das der Tod sein. Eiskalt ist es. So kalt, wie er sich das Sterben immer vorgestellt hat.
Warum sollte der Tod auch gerade ihn verschonen? Den Mann in der Tankstelle hat er ebenso willkürlich geholt wie danach Phil. Warum sollte ausgerechnet er ihm entrinnen? Vielleicht würden sie nun alle nacheinander sterben müssen. Alle, die mit der Sache zu tun hatten. Eine Strafe des Himmels. Und jetzt ist er dran, keine Frage.
Seine Erinnerung an die Ereignisse der letzten Tage kehrt allmählich zurück. Und sofort denkt er, dass dies hier die Hölle ist, von der der Pfarrer im Religionsunterricht gesprochen hat. Hölle bedeutet, die Erinnerung an diese Tage nie loszuwerden. Sie mit sich herumschleppen zu müssen bis in alle Ewigkeit, eingesperrt an diesem Ort.
Wo aber ist er gewesen, unmittelbar bevor er hier endete? Die Bilder kommen nur langsam wieder. Irgendwo am Hafen … Richtig, der kleine Segelhafen, wo sie früher immer gespielt haben. Die verlassene Werft. Große Angst hatte er. Er hat sich versteckt.
Aber vor wem?
Vor seinem Vater? Nein, der war seltsam weit weg.
Vor dem, den sie Boss nennen müssen? Obwohl er es hasst, irgendjemanden so zu nennen. Natürlich kennt er den richtigen Namen vom Boss. Alle kennen ihn, aber sie dürfen ihn nicht sagen. Sonst gibt’s ein paar aufs Maul.
Der Boss. Genau, vor dem war er auf der Flucht. Aber warum? Warum hat das Blatt sich gegen ihn gewendet? Und wann? Und dann war da noch etwas: Er hat gewartet. Aber auf was? Auf wen? Klara! Als ihr Name in sein Hirn schießt, weiß er plötzlich ganz sicher, dass er nicht tot ist. Er lebt! Für eine Sekunde durchströmt ihn das Gefühl ungeheurer Erleichterung. Aber dann setzt sofort eine neue Panik ein. Eine ganz andere Form von Panik. Nicht mehr die Angst, tot zu sein, sondern die, bald zu sterben. Er weiß nicht, welche schlimmer ist.
Was macht er hier? Und wo ist er, verdammt? Immer noch am Segelhafen? Oder längst an einem ganz anderen Ort, den er nicht kennt? Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Er liegt auf eiskaltem, steinhartem Boden, ganz sicher ist es nackter Beton. Er kann keine Wand neben sich ertasten, die wenigstens eine Orientierung im Raum bieten würde. Die Dunkelheit bleibt weiter undurchdringlich, löst sich auch durch die Gewöhnung nicht auf. Die Kälte tut weh bis in die Knochen. Als er aufsteht, stößt er völlig unvorbereitet und so heftig mit dem Kopf an die Decke, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann. Tatsächlich ist der gesamte Raum so flach, dass er nur in geduckter Haltung darin stehen kann.
Mit vorgestreckten Armen macht er ein paar unsichere Schritte. Doch dann stolpert er und stürzt der Länge nach auf den harten Boden, verletzt sich aber nicht. Auf den Knien tastet er sich vorsichtig zurück zu der Stelle, an der er gefallen ist. Er will das Hindernis finden. Vielleicht gibt es ihm irgendeinen Aufschluss über diesen Ort.
Dann hat er es. Seine Hände fühlen und tasten verzweifelt. Unbedingt will er herausfinden, was es ist. Aber am Ende handelt es sich um nichts weiter als um einen wenige Zentimeter aus dem Boden hervorstehenden Steinabsatz. Als er das erkannt hat, ist er keinen Schritt weiter als zuvor.
Er merkt, wie ihm die Tränen in die Augen schießen, aber er will jetzt nicht heulen. Auf keinen Fall will er das. Er will wissen, wo er hier ist, was er hier macht, was er hier soll. Und dann so schnell wie möglich von hier fortkommen.
Auf den Knien robbt er weiter. Noch immer sucht er wenigstens eine Wand als ersten Anhaltspunkt. Aber erst eine Ewigkeit später, als er kaum noch daran glaubt, ertastet er eine.
Im gleichen Augenblick
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