Bis ich bei dir bin
Hände, während mein Herz rast.
»Okay, ist gut! Ich treffe mich nicht mehr mit ihr, nie wieder, bitte komm jetzt da runter.«
Viv sieht mich lächelnd an. Sie will gerade heruntersteigen, verliert aber entweder das Gleichgewicht oder überlegt es sich in letzter Sekunde anders. Ich schreie auf. Ob sie rückwärts- oder vorwärtsfällt, bekomme ich nicht richtig mit, ich sehe nur ihre Augen und dass sie stürzt, und – wir sitzen im Auto, sie greift nach dem Feuerzeug, und der Wagen schleudert über den Asphalt – ich mache einen Satz und packe sie an der Red-Rams-Jacke und reiße sie in meine Arme. Wir fallen in den Gang zwischen den altersschwachen Tribünenreihen, und ich halte sie so fest, dass wir beide keine Luft bekommen.
»Wollte nur sichergehen«, keucht sie.
Ich lockere meinen Griff, lasse sie aber nicht los.
SECHSUNDZWANZIG
G egen Mitternacht bringe ich Viv sicher ins Bett und verspreche, sie morgen Abend gegen neun Uhr abzuholen. Dann schiebe ich das Fenster hinter mir herunter und gehe langsam zur Straße. Sobald meine Füße auf Asphalt treten, atme ich tief aus, wobei mir gar nicht klar war, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Ich fühle mich ausgehöhlt, wackelig auf den Beinen, total erschöpft. Die Ereignisse des Abends laufen immer wieder in meinem Kopf ab, doch je öfter ich an Viv – meine Viv – denke, wie sie dort oben auf der Tribünenbank steht, desto konfuser werde ich. Eigentlich müsste ich jetzt sofort nach Hause und ins Bett, wenn ich morgen zu irgendwas zu gebrauchen sein will, doch stattdessen biege ich am Ende der Straße nach rechts ab. Innerhalb von zehn Minuten bin ich in der Genesee Street, und noch einmal fünf Minuten später stehe ich dort, wo ich auf keinen Fall sein sollte: vor Ninas Tür.
Unwillkürlich blicke ich über meine Schulter, bevor ich klingele, was paranoid ist und mich nicht gerade lockerer macht. Viv war so außer sich heute Nacht – da muss etwas dahinterstecken, das mir entgeht. Und Nina ist der einzige Mensch, den ich fragen kann. Ich rede mir ein, dass es okay ist, hier zu sein, solange ich es für uns tue. Wenn ich herausbekomme, was da nicht stimmt, kann ich es in Ordnung bringen und Viv glücklich machen.
Nina hat heute zur Abwechslung mal ihren Pyjama an, aber ihre Augen sagen mir, dass sie noch nicht geschlafen hat. Die graue Hose ist mit kleinen Pinguinen bedruckt, und sie trägt ein blaues Spitzenhemdchen, das irgendwie nicht dazu passt. Nicht gerade das, was ich erwartet hatte, und das bringt mich aus dem Konzept. Ich war fest entschlossen, sie nach Viv zu fragen, um möglichst etwas Licht auf das zu werfen, was heute Nacht passiert ist, aber bei ihrem Anblick streikt mein Kopf, und ich kneife.
»Wie geht’s Owen?«, frage ich. »Ist er wieder auf den Beinen?«
»Ja, alles okay. Er schläft.« Sie mustert mich einen Moment, und ich bin sicher, dass sie meine aufgesetzte Alles-bestens-Miene ohne Weiteres durchschaut. »Möchtest du einen Tee?«
Die innere Anspannung, die ich schon den ganzen Abend verspüre, löst sich endlich. Tee. Kein Drama, keine Ansprüche, nur Nina und ihre offene Tür.
In der Küche schwenke ich auf einem der unbequemen gelben Raumschiffstühle herum, während Nina den Wasserkessel füllt. Sie lehnt sich dabei mit einer Hüfte an den Unterschrank und sieht mich nicht an. Ich verfolge jede ihrer Bewegungen. Sie holt zwei Becher heraus, wählt den Tee, füllt die Zuckerdose auf, alles ohne auch nur einen Blick in meine Richtung. Sie stellt keine Fragen und scheint kein bisschen darüber erschrocken zu sein, dass ich hier bin.
Ich muss mich auf meine zitternden Hände setzen.
»Ich wollte eigentlich schon früher herkommen und … nach Owen sehen.«
Sie zuckt die Achseln.
Das trifft mich. Ich weiß selbst nicht, warum, aber ihre gleichgültige Haltung macht mir zu schaffen. Ich beobachte die flackernde blaue Flamme auf dem Herd, bis der Kessel pfeift. Nina gießt kochendes Wasser in die Becher, lässt den Tee ziehen und süßt meinen, ohne nachzufragen, mit zwei Löffeln Zucker. Lächelnd stelle ich fest, dass sie sich gemerkt hat, wie ich ihn gern trinke.
»Danke«, sage ich und wärme mir die Hände am Becher.
»Meine Mutter hat immer gemeint, es gibt nichts, das so schwer ist, als dass eine schöne Tasse Tee es nicht leichter macht.« Sie lächelt und zuckt mit den Schultern. »Hast du wahrscheinlich schon mal gehört.«
»Nein, habe ich nicht.« Sie hat bei dem Spruch beinahe die Nase
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