Bis ich dich finde
machte nicht den Eindruck, als wären Mrs. Machados
Kinder darin aufgewachsen, sondern wirkte, als sei sie erst vor kurzem
eingezogen. Doch sie suchten sie ja nur aus einem einzigen Grund auf: um
miteinander ins Bett zu gehen und anschließend kurz zu duschen. Jack kam gar
nicht auf den Gedanken, sie zu fragen, wo denn ihre Kinder geschlafen hätten
oder warum sie sich noch immer Mrs. Machado nannte
oder warum auf dem Klingelschild im Erdgeschoß M. Machado stand – als wäre das »Mrs.« zu ihrem Vornamen geworden. (Warum war sie
überhaupt noch eine Mrs., wenn ihr Mann doch angeblich so gewalttätig war?)
Es waren diese Ausflüge in die von stickiger Augusthitze erfüllte
Wohnung von Mrs. Machado, die schließlich ihren Tribut forderten, nicht das
Ringen. Jack war ständig müde. Tschenko machte sich Sorgen, weil der Junge
zweieinhalb Kilo abgenommen hatte, und Alice wies ihren Sohn an, mehr Milch zu
trinken. Die feuchten Träume, die in jenem Sommer begonnen hatten, hörten
unvermittelt auf. (Wie hätte er auch feuchte Träume haben sollen, wo er doch
täglich gemolken wurde?)
Jack hatte andere Träume – schlechte Träume, wie Leslie Oastler
gesagt hätte. Außerdem hatte er sich die Bemerkung seiner Mutter, er sei zu
alt, um im selben Bett wie sie zu schlafen, zu Herzen genommen. Er wußte, daß
er nicht willkommen war, wenn seine Mutter und Mrs. Oastler im selben Bett
lagen. Und wenn es ihm – selten genug – gelang, Alice dazu zu überreden, sich
zu ihm zu legen, blieb sie nie lange. Jack wußte, daß früher oder später Leslie
kommen und seine Mutter mitnehmen würde.
[340] Ihre »Familienessen«, von denen Emma mit zunehmender Verachtung
sprach, waren an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Alice konnte nicht kochen,
Mrs. Oastler hatte keine Freude am Essen, und Emma wog wieder soviel wie vor
der Kur in Kalifornien.
»Was hast du denn gedacht, was in Georgian Bay passiert?« fragte
Emma ihre Mutter. »Wenn jeden Abend gegrillt wird – wie soll man da abnehmen?«
Zum Abendessen gingen sie gewöhnlich in ein Thai-Restaurant oder ließen sich
etwas ins Haus liefern. Um es mit Emma zu sagen: »Wie ich es sehe, läuft es
immer entweder auf Thai oder Pizza raus.«
»Herrgott, Emma«, sagte Mrs. Oastler dann, »nimm doch einfach bloß
einen Salat.«
Bei einem dieser gastronomischen Ereignisse – Pizza und Salat – sprachen Alice und Leslie darüber, wie Jack zu
seiner neuen Schule in Maine kommen sollte. Wie es schien, war diese Frage noch
weitgehend ungeklärt und der Ort nicht ganz leicht zu erreichen. Jack würde
nach Boston und von dort mit einer kleineren Maschine nach Portland fliegen; in
Portland mußte man dann für den Rest des Weges einen Wagen mieten. Alice konnte
nicht fahren. Mrs. Oastler konnte, hatte aber keine Lust auf Maine.
»Wenn Redding an der Küste läge, würde ich darüber nachdenken«,
sagte sie. Aber Redding – so hießen der Ort und die Schule – lag im Südwesten
von Maine, im Binnenland. (Jack wußte noch nicht, welche Unterschiede zwischen
der Küste und dem Binnenland von Maine bestanden.)
»Mensch, ich hab doch einen Führerschein – ich könnte ihn
hinbringen«, sagte Emma. Aber Emma war erst siebzehn und durfte in Portland
keinen Wagen mieten, und selbst sie gab zu, daß Redding für eine Autofahrt zu
weit von Toronto entfernt war.
Anstatt ihren Salat zu essen, studierte Emma eine [341] Straßenkarte
von Maine. »Redding liegt nördlich von Welchville«, sagte sie, »südlich von
Rumford, östlich von Bethel und westlich von Livermore Falls. Du liebe Zeit,
das ist ja wirklich mitten in der Pampa!«
»Wir könnten doch Peewee sagen, daß er Jack begleiten und fahren
soll«, schlug Mrs. Oastler vor.
»Peewee ist kanadischer Staatsbürger, aber in Jamaika geboren«,
sagte Alice. (Machten die Amerikaner Schwierigkeiten, wenn ein im Ausland
geborener Kanadier in die USA einreisen wollte?)
»Boris und Pawel könnten mich fahren«, sagte Jack. »Sie sind doch
Taxifahrer.« Und außerdem Ringer, dachte er. Er wußte, daß er bei ihnen sicher
sein würde. Aber Boris und Pawel besaßen noch nicht die kanadische
Staatsbürgerschaft – sie hatten erst kürzlich Asyl beantragt.
Tschenko konnte nicht fahren, und Krung, der einen wilden Fahrstil
hatte, war ein furchterregend aussehender Thailänder, auf dessen Wangen
winkelförmige Klingen tätowiert waren. Angesichts der Tatsache, daß der
Vietnamkrieg nur vier Jahre zurücklag, konnten sich Alice und Leslie
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