Bis ich dich finde
Zollbeamte.
»Einen königlichen Streitkolben. Manchmal ist es auch bloß [477] ein
Stab oder – wie in diesem Fall – ein kurzes Schwert«, fuhr Jack fort. »Es ist
ein Zeichen der Macht.«
»Chinesisch?« fragte der Mann. »Und sehr alt?«
»Ja, sehr. Es ist eigentlich buddhistisch.«
»Das möchte ich mir mal ansehen.«
»Es ist eine Tätowierung«, sagte Claudia zu dem Zollbeamten. »Die
brauche ich doch wohl nicht anzugeben, oder?«
Warum hatte Jack ihr das angetan? Er liebte Claudia – nun ja, er
mochte sie jedenfalls. Jack hatte Claudia nicht so enttäuscht erlebt, seit sie
die Nacktfotos von Emma entdeckt hatte. Es waren die alten Fotos gewesen, die
Emma ihm geschickt hatte, als er in Redding gewesen war und sich regelmäßig
einen runtergeholt hatte. Damals war Emma siebzehn gewesen. Charlotte Barford
hatte die Bilder gemacht. Claudia hatte Jack gezwungen, sie fortzuwerfen, aber
eines hatte er heimlich behalten.
»Ich möchte mich davon überzeugen, daß es nur eine Tätowierung ist«,
sagte der Zollbeamte. »Ich habe noch nie ein chinesisches Zepter gesehen.«
»Haben Sie eine Kolleg in ?« fragte Claudia.
»Die kann es sich ansehen.«
»Es ist an einer eher intimen Stelle«, erklärte Jack.
»Einen Moment«, sagte der Mann. Er ließ sie im Wagen sitzen und
verschwand, auf der Suche nach einer Kollegin, im Zollgebäude.
»Du bist so kindisch, Jack«, sagte Claudia. Er dachte an den Abend
im Haus von Leslie Oastler, als Alice etwas Ähnliches gesagt hatte.
»Pimmel, Pimmel, Pimmel«, begann Jack, hielt aber inne. Der
Zollbeamte erschien in Begleitung einer stämmigen schwarzen Beamtin. Claudia
stieg aus und ging mit ihr in das Gebäude, während Jack im Wagen sitzen blieb.
»Warum haben Sie das gemacht?« fragte der Zollbeamte.
»Bei uns läuft’s in letzter Zeit nicht so gut«, gab Jack zu.
[478] »Na, das hier wird’s nicht besser machen«, sagte der Mann.
Claudia kehrte zum Wagen zurück und bedachte Jack mit einem zutiefst
verletzten Blick. Sie fuhren weiter. Auf den ersten Kilometern in den
Vereinigten Staaten empfand Jack ein Hochgefühl, ohne daß er hätte sagen
können, warum.
Kanada war Jacks Heimatland, das Land, aus dem er stammte, und doch
freute er sich sehr, wieder in Amerika zu sein, wo er sich heimischer fühlte.
Wie kam das? fragte er sich. War er denn nicht Kanadier? War Jacks Ablehnung
seiner Mutter und der Welt der Tätowierungen der Grund, warum er seinem
Heimatland den Rücken kehrte?
Ungefähr vierhundertfünfzig Kilometer lang sagte Claudia kein Wort.
Sie hatte Emmas Rock wieder hochgeschlagen, so daß das chinesische Zepter auf
der Innenseite des rechten Oberschenkels nicht verdeckt war und Jack es mit
einem Seitenblick auf ihren Schoß sehen konnte. Es war eine der sehr seltenen
Tätowierungen, die er selbst gern gehabt hätte, wenn auch nicht auf der
Innenseite des Oberschenkels. Er dachte gerade darüber nach, an welcher Stelle
seines Körpers er sich das Motiv des chinesischen Zepters eines Tages stechen
lassen könnte, als Claudia endlich den Mund aufmachte.
Sie waren inzwischen in Vermont, etwa hundertfünfzig Kilometer von
ihrem Ziel in New Hampshire entfernt. Als Claudia bemerkte, daß er auf ihren
Schoß – und insbesondere das nagelneue chinesische Zepter – sah, sagte sie:
»Ich hab mir die verdammte Tätowierung für dich machen lassen.«
»Ich weiß«, sagte Jack. »Sie gefällt mir ja auch. Wirklich.« Claudia
wußte, daß ihm sowohl die Tätowierung als auch ihre Plazierung gefielen. »Die
Sache an der Grenze tut mir leid«, sagte Jack. »Ehrlich.«
»Ich bin darüber hinweg, Jack. Es hat eine Weile gedauert, aber ich
bin darüber hinweg. Es gibt andere Sachen, die mir mehr leid tun.«
[479] »Aha.«
»Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
»Tut mir leid.«
»Nicht nur, daß du nie Kinder haben wirst«, sagte sie, »du wirst
auch weiterhin den Genen deines Vaters die Schuld daran geben, daß du nie bei
einer Frau bleiben wirst – jedenfalls nicht für lange.«
Jetzt war es an Jack, hundertfünfzig Kilometer lang zu schweigen.
Und wenn man jemandem betont eine Antwort verweigert, ist auch das eine
Gelegenheit zum Schauspielern.
Bald würde Jack auch der Frau in Grau eine Antwort verweigern. Kurz
nachdem Jack und Claudia nach New Hampshire zurückgekehrt waren, traf ein Brief
von ihr ein. Die Frau in Grau machte darin lediglich eine kleine Bemerkung über
»Claudias außerordentliche Schönheit« und bezeichnete sie als
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