Bis ich dich finde
Phoebus wußte, daß Jack ihn jederzeit zerlegen
konnte, wenn er nur wollte.
In Wirklichkeit war Jack Hauptmann Phoebus dankbar für Claudias
Schuldgefühle. Phoebus hatte auch bewirkt, daß Jack sich ein bißchen weniger
schuldig dafür fühlte, daß er und Claudia sich einander entfremdeten.
Im Sommer, nachdem sie den Abschluß an der University of New
Hampshire gemacht hatten, trennten sich schließlich ihre Wege. Claudia wollte
ein Graduiertenstudium beginnen und an einer der zehn größten Universitäten des
Mittleren Westens Theaterwissenschaften studieren. (Jack legte Wert darauf, zu
vergessen, welche es war.) Es erschien ihnen vernünftig, sich bei verschiedenen
Sommertheatern zu bewerben. Claudia spielte bei einem Shakespeare-Festival in
New Jersey, während Jack im Rahmen eines Theaterworkshops für Kinder in
Cambridge, Massachusetts, in Die Schöne und das Biest und Peter Pan und Wendy auftrat.
Vielleicht verband er damit nostalgische Erinnerungen an seinen
unwiederbringlich verlorenen Freund Noah Rosen oder dessen noch
unwiederbringlicher verlorene Schwester Leah – auf jeden Fall aber dachte er
gern an die ausländischen Filme zurück, die er in den Kinos rings um den
Harvard Square gesehen hatte. Ein Sommer voller Untertitel und ein Publikum,
das aus Kindern und ihren jungen Müttern bestand, kamen ihm gerade recht.
Claudia sagte – und es waren nicht die letzten Worte, die sie zu ihm
sprach, sondern nur die letzten, an die er sich erinnerte: »Warum willst du vor
Kindern auftreten, wenn du doch gar keine willst?«
Jack spielte das Biest zusammen mit einer Schönen, die eher [486] zum
Typ ältere Frau gehörte; sie war zugleich eine der Gründerinnen des
Theaterworkshops für Kinder und hatte ihn engagiert. Ja, er schlief mit ihr.
Ihre Affäre dauerte einen Sommer und keinen Tag länger. Sie war viel zu alt, um
die Wendy zu spielen, wirkte aber jugendlich genug für die Rolle von Wendys
Mutter, Mrs. Darling. (Man stelle sich vor: Peter Pan vögelte Wendys Mutter, wenn auch nur einen Sommer lang.)
Jack mußte entweder ein Graduiertenstudium beginnen, um den Status
eines Studenten zu behalten, oder sich einen Job – und damit eine
Aufenthaltsgenehmigung für die USA – besorgen,
sofern er nicht nach Kanada zurückkehren wollte, und das wollte er nicht.
Wieder einmal war Emma seine Rettung. Sie hatte ihr Studium in Iowa zwei Jahre
zuvor abgeschlossen, lebte in Los Angeles und schrieb an ihrem ersten Roman,
was Jack wie ein Widerspruch in sich vorkam. Wer ging schon nach Los Angeles,
um einen Roman zu schreiben? Aber Emma hatte sich schon immer in der Rolle der
Außenseiterin gefallen.
Sie hatte einen Job als Drehbuchleserin in einem der großen Studios
gefunden; wie Jack war sie noch immer kanadische Staatsbürgerin und hatte nur
einen kanadischen Paß, doch sie besaß auch eine Aufenthaltsgenehmigung. Die
Stelle als Drehbuchleserin verdankte sie der Tatsache, daß sie ein Jahr lang
Comedy-Drehbücher für einen New Yorker Fernsehsender geschrieben hatte. Diese
Tätigkeit hatte nichts mit dem zu tun, was sie beim Writer’s Workshop in Iowa
gelernt hatte. Sie schrieb an ihrem Roman, der sie, wie sie sagte, für die Zeit
entschädigen sollte, die sie mit dem Studium der Filmwissenschaften
verschwendet hatte – »doch davon abgesehen«, sagte sie, »arbeite ich die ganze
Zeit für den Feind und werde dafür bezahlt«.
Warum er nicht zu ihr komme und bei ihr wohne, wollte sie von Jack
wissen. Sie werde ihm einen Job im Filmgeschäft verschaffen. »Hier gibt’s ein
paar gutaussehende Burschen, Zuckerbär – die Konkurrenz ist härter als in
Toronto. Aber es gibt nicht [487] so viele gutaussehende Burschen, die so gut schauspielern
können wie du.«
Das also war Jacks Plan, sofern man von einem Plan sprechen konnte.
Er hatte genug vom Theater – kein Wunder, wenn man an die vielen Musicals
denkt, in denen er aufgetreten war. Er fand es völlig in Ordnung, daß er bei
seinem letzten Bühnenauftritt Peter Pan war, der mit Wendy Darling und ihren
Brüdern ins Niemals-Land flog – während er in den frühen Morgenstunden, lange
nachdem der Vorhang gefallen war, mit Wendys Mutter, Mrs. Darling, vögelte.
»Was würde J. M. Barrie dazu sagen?« hätte Claudia vielleicht
gefragt, wenn sie davon gewußt hätte. An sie zu denken, machte Jack traurig.
Das Besondere an Los Angeles ist, daß es von keinem beeindruckt
ist, ganz gleich, wer man sein mag. Denn irgendwann ist es vorbei mit
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