Bis ich dich finde
interpretierten).
Claudia bekam größere, bessere Rollen. Sie war die Titelheldin in Bruno Litkins
Produktion von Oscar Wildes Salomé – er verehrte
Wilde und wollte an diesem Text kein I-Tüpfelchen ändern. Claudia war eine sehr
verführerische Salomé. Der absurde Tanz der sieben Schleier ging nicht auf ihr,
sondern auf [483] Wildes Konto, und das chinesische Zepter auf der Innenseite
ihres rechten Oberschenkels erforderte viel Make-up. (Ohne das Make-up wäre das
Publikum vielleicht verwirrt gewesen und hätte es für eine Wunde oder ein
Muttermal gehalten.)
Jack hatte in Salomé eine kleinere Rolle:
Er spielte den Propheten Jochanaan, den guten alten Johannes den Täufer, dessen
abgeschlagenen Kopf Salomé küßt. Ein toller Kuß. (Jack kniete unter einem
Tisch, in dessen Platte ein Loch für seinen Kopf gesägt worden war; das
Tischtuch verbarg nicht nur seinen Ständer, sondern auch den Rest seines
Körpers.) Doch die Beziehung zwischen Claudia und ihm hatte bereits Schaden
genommen, und nicht einmal dieser Kuß konnte verhindern, daß sie immer weiter
auseinandertrieben.
Die schwule Version von Der Glöckner von Notre
Dame vergrößerte die Distanz zwischen ihnen noch mehr. Später hatte Jack
Verständnis dafür, daß sie mit dem gutaussehenden Schauspieler, der den
schwulen Hauptmann Phoebus spielte, ins Bett gegangen war, doch damals warf
Jack es ihr vor. (Sie hatte, wie er fand, jedes Recht, ihm heimzuzahlen, daß er
sie im Frühjahr zuvor mit einer Tangolehrerin betrogen hatte.)
Claudia hatte Pech. Der Schauspieler, der den Hauptmann Phoebus
spielte, gab seinen Tripper an sie und damit auch an Jack weiter. Jack hätte
von dieser Affäre nie erfahren, wenn Claudia sie ihm nicht gestanden hätte, und
angesichts ihrer skrupellosen Lügen über ihr Alter hatte er keinen Grund zu der
Annahme, daß sie es ihm irgendwann aus freien Stücken erzählt hätte. Doch der
Tripper des Hauptmanns verriet sie.
Natürlich tat Jack, als hätte er weit größere Schmerzen, als es in
Wirklichkeit der Fall war: Er fiel auf die Knie und schrie jedesmal, wenn er
pinkeln mußte, während Claudia aus dem Schlafzimmer rief: »Es tut mir leid, es
tut mir leid, es tut mir so leid!«
In der von Bruno brillant choreographierten Szene, in der [484] Jack-als-Transen-Esmeralda dem Hauptmann Phoebus enthüllt, daß er ein Mann
ist, singt Jack ein herzzerreißendes Liebeslied, während Phoebus, obgleich tief
berührt, zurückweicht. (Der Hauptmann fühlt sich zu Jack hingezogen, doch der
Idiot denkt noch immer, Jack sei eine Frau – daher sein Widerstreben.)
Jack nimmt eine Hand des Hauptmanns und drückt sie an seinen
falschen Busen. Phoebus sieht nicht begeistert aus. Jack nimmt seine andere
Hand und drückt sie an seinen Schwanz. Phoebus zeigt dem Publikum sein
verblüfftes Gesicht, während Jack ihm etwas ins Ohr flüstert. Dann singen sie
den Song, den Bruno Litkins für seine schwule Version von Der
Glöckner von Notre Dame geschrieben hat: »Same As Me, Babe«, gesungen
zur Melodie von Bob Dylans »It Ain’t Me, Babe«. (Bei Dylan kannte Jack sich
aus. Er sang den Song gut.)
Doch am Abend des Tages, an dem er erfahren hatte, daß das Brennen
beim Pinkeln von einem Tripper rührte – und Claudia ihm gestanden hatte, woher
dieser gekommen war –, hatte Jack einen neuen Satz, den er Hauptmann Phoebus
ins Ohr flüstern konnte, während er dessen Hand an seinen Schwanz drückte.
»Danke für den Tripper, Süßer«, flüsterte er ihm ins Ohr.
Es war ein ziemlich guter Gesichtsausdruck, den Hauptmann Phoebus
dem Publikum jeden Abend zeigte – gewöhnlich gab es dafür einen Lacher. Was für
eine Entdeckung: Esmeralda hatte einen Penis! Das Publikum wußte das natürlich
bereits. Jack-als-Esmeralda hatte ihn vorher schon Probst Frollo gezeigt, in
der Hoffnung, das werde Frollo von weiteren Nachstellungen abhalten – ohne zu
wissen, daß Frollo homophob war und von nun an alles daransetzen würde,
Esmeralda hängen zu sehen!
Doch an diesem denkwürdigen Abend, als Hauptmann Phoebus Esmeraldas
Penis hielt und Jack sich bei ihm für den Tripper bedankte, war der schneidige
Soldat wie vom Donner gerührt. Er starrte eine volle Minute lang perplex ins
Publikum, das spontan aufsprang und ihm stehende Ovationen brachte.
[485] »Vielleicht solltest du diesen Blick ein bißchen zurücknehmen«,
sagte Bruno Litkins nach der Vorstellung zu ihm.
Jack schenkte dem Hauptmann sein schönstes
Esmeralda-als-Transe-Lächeln.
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