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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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entkommen können«, sagt Rachel immer wieder.
»Otto, der Vater, hätte ein Boot stehlen können. Er hätte von der Prinsengracht
zum Kanal und weiter zur Amstel fahren können. Nicht zum Meer natürlich, aber
zu einem sicheren Ort. Ich weiß, daß sie ihnen hätten
entkommen können.«
    [541]  Bis zu diesem Punkt war in dem Film eigentlich noch gar nichts
passiert, doch Emma weinte bereits. »Seht ihr? Er ist gut, nicht?« sagte
Vanvleck immer wieder. »Ist er nicht großartig?«
    Rachel ist von dem Gedanken besessen, sie sei Anne Frank, die ins
Leben zurückgekehrt ist – sie glaubt, sie könne die Geschichte umschreiben. An
Jom Kippur, als das Anne-Frank-Haus geschlossen ist, schleicht sie sich hinein.
Sie verkleidet sich als Anne Frank – sie verwandelt sich eigentlich, denn die Ähnlichkeit ist mehr als nur ein bißchen unheimlich
–, und am nächsten Morgen, als die Touristen darauf warten, eingelassen zu
werden, verläßt Rachel-als-Anne das Anne-Frank-Haus, als wäre sie Anne Frank.
Einige der Touristen schreien, weil sie glauben, sie sei ein Geist. Andere
folgen ihr und machen Fotos.
    Sie geht zur Gracht, wo Otto, ihr Vater, schon im Boot wartet.
Absurderweise ist es eine Gondel, die eher nach Venedig als nach Amsterdam
paßt, und Otto ist ein sehr unwahrscheinlich und unitalienisch wirkender
Gondoliere. Anne geht an Bord und winkt ihren Zuschauern zu.
    Es gibt eine wunderschöne, von der vergoldeten Turmspitze der
Westerkerk gefilmte Einstellung, in der das Boot durch die Prinsengracht fährt.
Viele Menschen eilen zu den Brücken und winken. Das Boot biegt in die breitere
Amstel ein: noch mehr Menschen, klickende Fotoapparate.
    Das Ende, der Tod dieser Phantasie, wird fast ausschließlich durch
den Ton vermittelt: Man hört das Trampeln von Soldatenstiefeln auf dem
Kopfsteinpflaster und auf der Treppe im Anne-Frank-Haus, das, wie wir sehen,
leer ist. Einige Möbel sind umgestürzt, Annes Briefe und Tagebücher liegen
verstreut. Sie ist ihnen nicht entkommen.
    Emma weinte sich die Augen aus. Jack saß in der geschmacklos
eingerichteten Villa am Loma Vista Drive, und in seinem Geist vermischte sich
das Geräusch der durch das Haus schlingernden Whippets mit dem Trampeln der
Soldatenstiefel. Er [542]  vermochte sich nicht auszumalen, was Wild Bill Vanvleck
aus Liebe Anne Frank machen würde.
    Das Drehbuch des Remake Monsters bescherte Emma und Jack tatsächlich
tagelange Depressionen.
    »Ich glaube, ich gehe dann mal zum Training«, sagte Jack zu Emma,
als er das Buch gelesen hatte.
    Nachdem sie gesagt hatte: »Mir fehlen die Worte«, holte Emma tief
Luft und verkündete, sie werde jetzt weiter an ihrem Roman arbeiten. »Ich hätte
es wissen sollen, als wir uns den Film angesehen haben«, sagte sie später zu
Jack. »Auf keinen Fall kannst du Anne Frank spielen.«
    Aber an dem Tag, an dem sie das Drehbuch für das Remake lasen und
ihnen dämmerte, was aus Liebe Anne Frank werden
würde, konnte Jack nicht anders als ins Fitness-Studio gehen und seinen Körper
quälen, und Emma konnte nicht anders als an ihrem nächsten Hollywood-Roman
arbeiten. Das Drehbuch des Verrückten Holländers war abgrundtief schlecht.
    Der Erfolg hatte Emma noch mehr in die Arbeit getrieben. Sie
stand meist auf, wenn der Berufsverkehr auf dem PCH erwachte, und trank mehrere Tassen starken Kaffee, manchmal mit geschlossenen
Augen, immer aber bei laufender Musik, die für Jacks Geschmack zu laut und zu
aggressiv war, auch wenn sie eine willkommene Abwechslung von der allgemein
uninspirierten Musik der Schnellstraße war.
    Emma schrieb den ganzen Morgen. Den Kaffee bezeichnete sie als
»Appetitzügler meiner Wahl«. Wenn ihr Hunger zu groß wurde, fuhr sie
irgendwohin zum Essen. Zum Mittagessen trank sie nichts, obwohl sie eine Menge
aß, sowohl mittags als auch spätabends.
    Le Dome am Sunset Strip gefiel ihr. Es hatte eine behäbige, an das
Hollywood von früher gemahnende Atmosphäre, war aber noch immer ein Ort, wo
sich Studiobosse, Agenten und Anwälte [543]  trafen. Sie mochte auch das Spago in
West Hollywood – das erste Spago, das auf dem Hügel am Sunset Boulevard lag.
Und obwohl es selbst für die erfolgreichsten Erstlingsautoren zu teuer war,
brauchte Emma einmal pro Woche eine Dosis von The Palm am Santa Monica
Boulevard, wo es nach ihren Worten mehr Agenten gab als Steaks und Hummer.
    Sie hatte ihre Kerze an beiden Enden angezündet, denn nach dem
Mittagessen ging sie ins Fitness-Studio und verbrachte den größten

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