Bis ich dich finde
Rolle gespielt hätte,
hatte sie geschwiegen. Jetzt war Jack derjenige, der schwieg.
»Wenn es irgend etwas gibt, was du mich fragen willst, dann frag
ruhig!« sagte seine Mutter.
»Bist du Leslie treu?« fragte er. »Ist sie dir treuer als du ihr?«
Eigentlich interessierte ihn das gar nicht – er wollte nur sehen, ob seine
Mutter bereit war, ihm eine ehrliche Antwort zu geben.
»Jackie – was für eine Frage!«
»Was für ein Mensch war mein Dad? Ein guter oder ein schlechter
Mensch?«
»Jack, ich finde, du solltest für ein paar Tage nach Hause kommen,
nach Toronto – damit wir miteinander reden können.«
»Wir reden doch, Mom.«
»Du suchst nur Streit.«
»Bitte sag Leslie, daß ich versucht habe, mit dir zu reden«, sagte
Jack.
»Hast du auch wirklich nicht mit ihr
geschlafen?« fragte seine Mutter.
[617] Jack bedauerte es beinahe, daß er nicht wirklich mit Leslie Oastler geschlafen hatte, aber er sagte lediglich: »Nein, Mom, habe
ich nicht.«
Danach verläpperte ihr Gespräch (wenn man es denn als solches
bezeichnen konnte). Als Jack seiner Mutter erzählte, er habe sich bei Mrs.
Oastler für alles bedankt, was sie für ihn – oder vielmehr für sie beide –
getan hatte, antwortete seine Mom mit dem gewohnten »Das ist nett von dir«.
Er hätte hinzufügen sollen, daß Mrs. Oastler auf seinen Dank
merkwürdig reagiert hatte, tat es jedoch nicht.
Jack telefonierte vom schnurlosen Apparat aus und schaute dabei zum
Fenster hinaus auf ein Fernsehteam in der Einfahrt. Die Fernsehleute filmten
sein Haus, was ihn gewaltig ärgerte. Er war abgelenkt und bekam nicht richtig
mit, was seine Mom gerade über irgendeine Tätowierertagung in Woodstock, New
York, sagte.
Aus heiterem Himmel fragte Jack sie: »Weißt du noch, als ich in
Redding war? Du wolltest mich mal dort in Maine besuchen, aber dann ist
irgendwas dazwischengekommen, und du konntest nicht. Vier Jahre war ich in
Redding, aber du bist kein einziges Mal gekommen.«
»Also, das ist vielleicht eine Geschichte – warum ich nicht nach
Redding gekommen bin. Natürlich weiß ich das noch! Die Geschichte muß ich dir
mal irgendwann erzählen, Jack. Das war vielleicht ein Ding.«
Irgendwie kam es ihm so vor, als hätte Mrs. Oastler etwas anderes
gemeint, als sie davon gesprochen hatte, er solle mit seiner Mutter reden. Sie
drehten sich im Kreis. Jack hatte zehn Jahre lang mit Emma zusammengelebt; nun
war Emma nicht mehr da, und er und seine Mom konnten nicht miteinander reden.
Sie hatten es noch nie gekonnt. Es war ziemlich klar, daß sie keinerlei Lust
verspürte, ihm irgend etwas zu erzählen.
Alice wollte wissen, welche Aufgaben mit dem Amt eines [618] literarischen Nachlaßverwalters verbunden seien, doch Jack wußte es nicht.
»Das werde ich schon rausfinden«, war alles, was er sagen konnte.
Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß nur eine einzige
Nachricht auf dem Anrufbeantworter war, die er abspielte, während er noch mit
seiner Mutter sprach. Es war Mildred (»Milly») Ascheim, die Pornoproduzentin,
die ihm ihr Beileid aussprach. Ihre Stimme ähnelte so sehr der von Myra, daß
Jack einen Moment lang glaubte, Myra melde sich aus dem Grab. »Lieber Jack
Burns«, sagte Milly Ascheim, als diktierte sie einen Brief an ihn. »Es tut mir
leid, daß Sie Ihre Freundin verloren haben.«
Sie hinterließ weder eine Nummer, noch sagte sie ihren Namen, aber
bestimmt wußte sie, daß er wußte, daß die Schwestern Ascheim mit einer Stimme sprachen. Ihr Anruf rührte ihn, lenkte ihn
aber erneut von dem ab, was sein Mutter gerade sagte – wieder etwas über Mrs.
Oastler.
»Jack, bist du allein?«
»Ja, ich bin allein, Mom.«
»Ich habe doch gerade eine Frauenstimme gehört.«
»Das war jemand im Fernsehen«, log er.
»Ich habe dich gefragt, ob Leslie ihre
Kleider anbehalten hat, Jack.«
»Also, ich glaube, ich hätte es gemerkt, wenn sie sie ausgezogen
hätte«, sagte er zu ihr.
»Schauspieler«, gab Alice zurück.
»Mom, ich muß los.« (Genauso hätte es Emma gesagt, wie ihnen beiden
auffiel.)
»Auf Wiedersehen, Billy Rainbow«, sagte seine Mutter und legte auf.
[619] 24
Der Knopftrick
Die Ehemaligen von St. Hilda, zu denen auch Leslie Oastler
gehörte, entschieden sich häufig für Aussegnungen oder Trauerfeiern in der
Schulkapelle, mit der sie sowohl liebevolle als auch traumatische Erinnerungen
an ihre Jugendtage verbanden, die sie meist nicht in der verderblichen
Gesellschaft von Jungen verbracht hatten – mit
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