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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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mit leicht abgewandtem Gesicht zu sprechen. Die ständige
Bewegung ihrer langen Arme – als dirigierte sie Musik, die nur sie selbst hören
konnte – war sehr anmutig; sie war selbst in ihren weißen Tennissocken einen
Kopf größer als Jack. (Er mußte sich an der Tür die Schuhe ausziehen.)
    Was die Böden anging, hatte Breivik recht gehabt – sie hatte die
Originaldielen erhalten. Ihr Sohn hatte ihr geholfen, die alten Lackschichten
zu entfernen. Die Küche war der schönste Raum der Wohnung; sie war Anfang der
Neunziger renoviert worden. »Mit Schränken und allem Zubehör von IKEA – nichts Ausgefallenes«, sagte Ingrid. Die Küche
war in Blau und Weiß gehalten, mit einem Arbeitstisch aus Holz und einem
Küchentisch, an dem drei Stühle standen; ein Eßzimmer gab es nicht.
    Im Wohnzimmer, das zur Straße ging, gab es einen alten Kamin, und
die Originalstuckverzierungen waren intakt. Das Klavier stand vor einer Wand
voller Fotos – hauptsächlich Familienbilder. Das größte der drei Zimmer, das
von Ingrid, lag ebenfalls zur Straße, nicht zum Park.
    »Ich finde den Park nachts ziemlich einsam«, sagte sie zu Jack, »und
außerdem wollten meine Kinder Zimmer mit Blick auf den Park. In dieser Wohnung
waren keine schwierigen Entscheidungen zu treffen.« Zusätzlich zu ihrer
Sprachbehinderung hatte sie eine interessante Art zu sprechen.
    Der dicke Zopf, der ihr bis zur Taille gereicht hatte, war
verschwunden; ihr Haar war mittlerweile knapp schulterlang, aber immer noch
blond, mit nur leisen Andeutungen von Silber. Sie trug Jeans und – über der
Hose, wie einst Miss Wurtz – ein Männerhemd aus Flanell, vielleicht ihr
Lieblingsstück unter den zurückgelassenen Hemden ihres Sohnes.
    »Ich habe das deinetwegen angezogen, weil es so amerikanisch ist«,
sagte Ingrid und nestelte mit ihren langen Fingern an dem Hemd. »In der Wohnung
mache ich mich nicht fein, und ich [763]  schminke mich auch nicht.« (Auch das
keine schwierige Entscheidung, stellte sich Jack vor.) »Das würde nur meine
Schüler nervös machen.«
    Jack sagte, daß er glaube, er habe einen ihrer Schüler kennengelernt
und ihn wahrscheinlich nervös gemacht, ohne es zu wollen. »Ein englischer
Junge, ungefähr zwölf bis dreizehn Jahre alt?« fragte er.
    Sie nickte lächelnd. Viele ihrer Schüler kämen aus
Diplomatenfamilien; die Eltern wollten, daß sich ihre Kinder mit kulturellen
Dingen beschäftigten. »Damit sie nicht untätig herumhängen«, sagte Ingrid.
»Kein schlechter Grund, um Klavier zu spielen.«
    Jack fragte sie, ob sie ihm etwas vorspielen würde, aber sie
schüttelte den Kopf. Die Wohnung sei nicht schallgedämmt, erklärte sie. In dem
alten Gebäude könnten ihre Nachbarn das Klavier durch die Wände hören. Nach
fünf Uhr nachmittags spiele sie nicht mehr, und der erste Schüler komme nicht
vor neun oder eher zehn Uhr morgens in die Wohnung.
    Sie und Jack saßen in der Küche, wo Ingrid eine Kanne Tee machte.
Ihre Wangen waren leicht eingefallen, aber sie war immer noch schön. Das
Kindliche war aus ihrem Gesicht verschwunden, und dank ihrer langen Glieder und
breiten Hüften hatte sie schon immer sehr fraulich gewirkt. Sie war eher
gutaussehend als hübsch, wie es sich für eine Mutter von zwei erwachsenen
Kindern gehörte. Deren Fotos hingen überall in der Wohnung, nicht nur an der
Wand hinter dem Klavier.
    Auf einigen Fotos der Kinder in jüngerem Alter hatte Jack einen nett
aussehenden Mann entdeckt; auf manchen Bildern war er Matrose, auf anderen
Skiläufer. Der Vater der Kinder, Ingrids Ex-Mann, vermutete Jack. Der Mann
wirkte nett auf eine Weise, wie Emma das Wort einmal
definiert hatte, das heißt, er wirkte normal. Auch an
Ingrid schien alles normal zu sein – im besten Sinne des Wortes.
    [764]  »Ich hätte nicht sagen dürfen, daß ich froh bin, daß deine Mutter
tot ist. So etwas Schreckliches sagt man nicht zu einem Sohn über seine
Mutter!« rief sie aus. »Es tut mir leid.«
    »Nein, das muß Ihnen nicht leid tun«, sagte Jack. »Ich verstehe
das.«
    »Ich habe sie zweimal gehaßt«, sagte Ingrid zu ihm. »Weil sie mir
das angetan, weil sie Andreas verführt hat – natürlich habe ich sie deswegen
gehaßt. Aber als ich selbst Kinder hatte und sie so alt waren wie du, als ich dich kennengelernt habe, da habe ich deine
Mutter noch einmal gehaßt. Ich habe sie gehaßt, weil sie dir das angetan hat.
Zuerst habe ich sie als Frau gehaßt, dann als Mutter. Eine Frau kann nicht
Kinder haben und weiter zuerst an

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