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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sich selbst denken, aber sie hat das getan.
Alice hat nicht an dich gedacht – daran, daß du keinen Vater hast. Sie hat nur
an sich selbst gedacht.«
    Jack brachte kein Wort heraus; alles, was Ingrid sagte, hörte sich
wahr an. Er konnte keine Einwände vorbringen, aber er konnte ihr auch nicht
beipflichten – jedenfalls nicht aus eigener Erfahrung. Was wußte Jack Burns
darüber, wie es war, Kinder zu haben, und wie Kinder einen veränderten?
Schließlich sagte er: »Sie haben noch einen dritten Grund, sie zu hassen –
wegen Ihrer Tätowierung. Ich weiß noch, daß es nicht das war, was Sie wollten.«
    Ingrid lachte; ihr Lachen klang natürlicher als ihr Weinen. Sie
bewegte sich anmutig durch die Küche – machte den Kühlschrank auf, stellte
Essen auf den Tisch. Jack begriff, daß sie ein kaltes Abendessen vorbereitet
hatte – Gravad Laks mit Senfsauce, Kartoffelsalat mit Gurken und Dill und sehr
dunkles, in Scheiben geschnittenes Roggenbrot.
    »Das war doch bloß eine Tätowierung – nichts, was das Leben verändert«,
sagte sie. »Aber ich war stolz auf mich, weil ich ihr gesagt habe, was ich
wollte. Ich wußte, das würde ihr schwer gegen den Strich gehen. ›Ein heiles
Herz, ein ganz und gar [765]  ungebrochenes‹, habe ich zu ihr gesagt. ›Ein Herz,
das meine Babys eines Tages gern anfassen werden‹, habe ich gesagt. ›Mit meinem
Herzen ist alles in bester Ordnung‹, habe ich zu deiner Mutter gesagt.
›Vielleicht machen Sie es einfach ein bißchen kleiner als den Durchschnitt‹,
habe ich zu ihr gesagt, ›meine Brust ist nämlich auch ein bißchen kleiner als
der Durchschnitt.‹ Ich fand es ungemein tapfer von mir, ihr das zu sagen, wo
mein Herz doch die ganze Zeit gebrochen war. Andreas und deine Mutter hatten es
gebrochen, aber ihr wollte ich das auf keinen Fall
auf die Nase binden.«
    »Was haben Sie gesagt?« fragte Jack sie. Er war nicht durch ihre
Sprachbehinderung irritiert; er war sich ziemlich sicher, daß er sie verstanden
hatte. »Sie haben gar kein gebrochenes Herz verlangt, Ingrid?«
    » Verlangt? Aber so etwas will doch kein
Mensch!« rief sie aus. »Ich habe ein Herz von deiner Mutter verlangt, wie ich
es hatte, bevor sie mit Andreas gevögelt hat!« Ingrid zündete Kerzen an, die
Gedecke hatte sie schon aufgelegt. Sie hatte kein Licht in der Küche gemacht,
sondern zog die Dämmerung und den Blick auf den Stensparken vor. »Und dann hat
mir das Miststück ein gebrochenes Herz gemacht!« sagte Ingrid. »Ein Herz, so
häßlich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Na ja, du hast den Verband
aufgelegt, Jack. Du erinnerst dich bestimmt noch.«
    »Nach meiner Erinnerung war es genau umgekehrt«, sagte er zu ihr.
Sie goß sich ein Glas Wein ein. (Irgendwoher wußte sie, daß Jack nicht trank;
später erzählte sie ihm, sie habe in einem Interview gelesen, daß er
Abstinenzler sei.) »Ich erinnere mich, daß Sie ein entzweigerissenes Herz
verlangt haben und meine Mutter Ihnen ein gutes gemacht hat.«
    »Ein gutes hat sie mir schon gemacht«,
sagte Ingrid. Sie stand neben Jacks Stuhl und knöpfte sich das Flanellhemd auf.
Sie trug keinen BH . (Er stellte sich Miss Wurtz in
einem solchen Hemd vor, ohne BH , wie sie für
seinen Vater ihr Hemd aufknöpfte.)
    [766]  Selbst in der Dämmerung, im Kerzenlicht, sah die Tätowierung von
Ingrid Amundsens gebrochenem Herzen wie eine frische Wunde aus – der gezackte
Riß durchschnitt es diagonal. Die blutroten Ränder des Risses waren dunkler als
die Schattierung des Herzens und schärfer konturiert als der Umriß. Nie hatte
Jack eine häßlichere Tätowierung von seiner Mutter gesehen, aber Ingrid schien
sich damit abgefunden zu haben.
    »Und jetzt kommt das Schönste«, sagte sie und knöpfte sich das Hemd
wieder zu. »Meine Babys waren davon hin und weg! Sie haben es furchtbar gern
angefaßt! Und mir ist klargeworden, daß deine Mutter mir das Herz gemacht hat,
das ich hatte, und nicht das Herz, das ich mal gehabt hatte. Wieviel grausamer wäre es gewesen, mit dem Herzen herumzulaufen, das ich gehabt hatte. Natürlich hat sie mir nicht bewußt
einen Gefallen getan.« Sie setzte sich an den Tisch und legte ihm auf. » Bon appétit, Jack«, sagte sie. »Wenn ich dich im Kino sehe,
denke ich immer, wie stolz dein Vater auf dich sein muß – und wie sehr es
deiner Mutter weh getan haben muß, dich zu sehen.«
    »Ihr weh getan ? Wieso das?« fragte er.
    »Weil sie dich endlich doch teilen mußte«, sagte Ingrid. »Sie hat
dich nie teilen

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