Bis ich dich finde
hatten.
Ingrid hatte keinen nennenswerten Busen, und die blauen Adern in
ihren Unterarmen kontrastierten mit dem Goldton ihrer Haut – genau wie er es in
Erinnerung hatte. Eine andere blaue Ader, die an ihrer Kehle begann, verlief
zwischen ihren kleinen Brüsten nach unten; sie schien zu pulsieren, als lebte
ein Tier unter Ingrids Haut. Vielleicht beeinträchtigte das Tier ihr
Sprechvermögen. Zumindest an ihre Adern hatte er sich richtig erinnert.
»Ich habe immer überlegt, wer von uns beiden schwerer zu tragen hat,
aber uns geht es ganz gut, oder?« fragte ihn Ingrid; ihre dürftige Stimme klang
in diesem Augenblick schrecklich.
»Ja, ich glaube schon«, sagte Jack, doch eigentlich hatte er nicht
das Gefühl, daß es ihm gutging – und was Ingrid anbelangte, konnte er es nicht
sagen. Sie hatte eine Aura von hingenommener Traurigkeit. Er fand es
unerträglich, sich vorzustellen, wie sie Menschen zum erstenmal begegnete und
wie sich das auf sie auswirkte. Er war sogar wütend auf ihren Sohn, der sich
zur Universität von Bergen davongemacht hatte. Hätte der Junge nicht zu Hause
bleiben und sich mehr um seine Mutter kümmern können?
Doch Ingrids Leben, ihre scheinbare Intaktheit, machten einen
sympathischeren Eindruck auf ihn als das Leben, das Andreas Breivik führte.
Breiviks Ansicht, Ingrid sei in keinerlei Hinsicht sehr erfolgreich gewesen,
erschien Jack arrogant und falsch. Aber Andreas hatte sie besser gekannt, als
Jack sie kannte. Sie war eine ungemein schöne und dennoch mit einem Makel
behaftete Frau. Für Jacks Mutter war es ein leichtes gewesen, ihn glauben zu
machen, Ingrid und William seien ein Liebespaar. (Wer hätte nicht ihr Liebster sein wollen?)
»So schlimm wie in Kopenhagen kann es für deinen Vater nirgendwo
sonst gewesen sein«, sagte Ingrid zu Jack, »aber ich [770] glaube nicht, daß sich
die Probleme mit deiner Mutter je gebessert haben. Jedenfalls nicht in
Helsinki. Dort war Alice absolut schrecklich zu ihm. Aber die gewünschte
Wirkung hat sie nicht erzielt. Ich glaube, in Helsinki ist deiner Mutter
allmählich die Puste ausgegangen, Jack.« (Diesen Eindruck hatte Jack auch immer
gehabt.)
»Was ist in Helsinki passiert?« fragte er sie.
»Alles weiß ich auch nicht, Jack. Ich weiß nur, daß Alice versucht
hat, ein lesbisches Paar auseinanderzubringen, aber sie hat es nicht geschafft.
Sie haben beide mit ihr geschlafen – und dabei Spaß gehabt oder auch nicht –,
aber danach waren sie trotzdem weiterhin ein Paar!«
»Wer waren die beiden?« fragte Jack.
»Musikstudentinnen – mit die besten Schüler deines Vaters, so wie
Andreas und ich. Nur eine war Organistin, die andere hat Cello gespielt.«
»Ritva und Hannele waren lesbisch ?« fragte
Jack.
»Die Namen kommen mir bekannt vor«, sagte Ingrid. »Das Entscheidende
ist folgendes, Jack – deine Mutter hat damals zum zweitenmal nicht erreicht,
was sie wollte. Dein Vater allerdings auch nicht.«
»Du bist mit ihm in Verbindung geblieben?« fragte Jack.
»Bis er nach Amsterdam gegangen ist«, sagte Ingrid. »Was auch immer
dort passiert ist, er hat mir nichts davon geschrieben. Ich habe den Kontakt
mit ihm verloren, als er aus Helsinki abgereist ist.«
Das Küssen war interessanter geworden; beeinträchtigt war
hauptsächlich ihr Sprechvermögen. Ihr Mund hatte etwas Eigenartiges, das zwar
wahrzunehmen, aber nicht genau zu definieren war – keine Beeinträchtigung im
eigentlichen Sinne, aber doch eine Art unwillkürliches Zittern, das wie eine
Beeinträchtigung anmutete. Was es war, wußte Jack nicht, aber er fand es sehr
erregend.
[771] Es war wohl der falsche Zeitpunkt, um sie zu fragen, aber der
Gedanke war ihm nun einmal gekommen, als sie angedeutet hatte, daß sie in
bescheidenem Umfang mit seinem Vater korrespondiert hatte, wenn auch nur so
lange, wie dieser in Finnland gewesen war. Jack mußte sie einfach fragen: »War
zwischen dir und meinem Vater irgend etwas, Ingrid?«
»Wie kannst du mich so etwas fragen – du ungezogener Junge!« sagte
sie lachend. »Er war ein reizender Mann, aber er war nicht mein Typ. Zunächst
einmal war er zu klein.«
»Kleiner als ich?« fragte Jack.
»Ein bißchen kleiner vielleicht – nicht
viel. Allerdings habe ich nie neben ihm gelegen!« fügte sie, abermals lachend,
hinzu. Sie packte seinen Penis, was nach seiner Erfahrung auf einen gewissen
Überdruß am jeweiligen Gesprächsthema hindeutete – worin es auch immer bestand.
»Dann bin ich also auch nicht dein Typ?«
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