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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sollte sie das Bedürfnis haben, an die
Vergangenheit erinnert zu werden? Aber es war dumm, sie täuschen zu wollen, und
Jack stellte sich dabei nicht sehr geschickt an. (»Du bist mir vielleicht ein
Schauspieler!« hätte Emma zu ihm gesagt.)
    Als Ingrid Amundsen abnahm, brachte es Jack völlig durcheinander,
daß sie etwas auf norwegisch sagte. In welcher Sprache andererseits hätte sie
wohl sonst sprechen sollen?
    »Hallo? Ich bin Amerikaner und halte mich auf unbestimmte Zeit in
Oslo auf!« stieß Jack hervor, als litte er unter etwas wesentlich Schlimmerem
als einer Sprachbehinderung. »Ich möchte meine Klavierstunden fortsetzen.«
    [760]  »Jack Burns«, sagte Ingrid. So wie sie seinen Namen aussprach,
erkannte Jack ihn kaum wieder. »Wenn man so spricht wie ich«, fuhr sie fort,
»achtet man sehr genau auf die Stimme anderer Menschen. Ich würde deine Stimme
überall erkennen, Jack Burns. So ungefähr das einzige, was ich mit normal
sprechenden Menschen gemeinsam habe, ist, daß ich alle deine Filme gesehen habe.«
    »Aha«, sagte Jack, als wäre er wieder vier Jahre alt.
    »Und wenn du Klavier spielst, Jack, dann wahrscheinlich besser als
ich. Ich bezweifle, daß ich dir irgend etwas beibringen kann.«
    »Ich spiele nicht Klavier«, gestand er. »Meine Mutter ist tot, und meinen
Vater kenne ich nicht. Ich wollte mit Ihnen über ihn reden.«
    Jack konnte sie weinen hören; es war nicht schön. Sie konnte nicht
einmal normal weinen. »Ich bin froh, daß deine Mutter
tot ist!« sagte sie. »Ich glaube, das werde ich feiern! Ich würde mich
schrecklich gern mit dir über deinen Vater unterhalten, Jack. Bitte komm und
sprich mit mir, dann feiern wir ein bißchen.«
    Er erinnerte sich, wie er ihr nachgesehen hatte, als sie gegangen
war – den langen, mit Teppichboden belegten Flur des Bristol entlang. Sie war
sechzehn gewesen und auf die Dreißig zugegangen, wie er sich entsann. Von
hinten hatte sie nicht wie ein Kind ausgesehen; ihr Gang war der einer Frau
gewesen. Und was für eine Stimme – die Stimme war immer sechzehn gewesen und
auf die Fünfundvierzig zugegangen.
    Obwohl es regnete, blieb Jack eine Viertelstunde vor dem Gebäude in
der Theresesgate stehen, zum Glück unter einem Schirm. Das Taxi hatte ihn
rascher hingebracht, als er erwartet hatte. Ingrid hatte ihn für fünf Uhr
nachmittags eingeladen; um diese Zeit würde der letzte Klavierschüler des Tages
ihre Wohnung verlassen. Jack blickte von seiner Uhr auf und sah einen [761]  Zwölf-
oder Dreizehnjährigen aus dem Gebäude kommen. Er sah aus wie ein
Klavierschüler, fand Jack – ein bißchen verträumt, ein bißchen zart, ein
bißchen so, als wäre es nicht ausschließlich sein Wunsch, daß er Klavier
spielte.
    »Verzeihung«, sagte Jack zu dem Jungen. »Spielst du Klavier?« Der
Junge hatte fürchterliche Angst: Er sah aus, als schätzte er ab, in welche
Richtung er davonlaufen sollte. »Entschuldige, daß ich so neugierig bin«, sagte
Jack und hoffte, beruhigend zu klingen. »Ich fand nur, daß du sehr musikalisch
wirkst. Jedenfalls, wenn du Klavier spielst, dann bleib dabei. Hör nicht auf!
Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich es bedauere, daß ich aufgehört
habe.«
    »Verpiß dich!« sagte der Junge, während er sich rückwärts von ihm
entfernte. Zu Jacks Überraschung hatte er einen englischen Akzent. »Du siehst
aus wie dieser Fiesling Jack Burns. Los, verpiß dich!«
    Jack sah ihm nach, wie er davonrannte. Der Junge entfernte sich in
Richtung der Haltestelle Stensgate. Jack stellte sich vor, der Klavierschüler
sei ungefähr so alt wie Niels Ringhof, als Niels mit Alice geschlafen hatte. Er
drückte die Klingel, an der AMUNDSEN stand – kein
Vorname, keine Initiale.
    Das Haus hatte keinen Fahrstuhl, aber selbst ein Snob wie Andreas
Breivik hätte den Blick aus der Wohnung im zweiten Stock genossen. Die Küche
und die beiden kleineren Zimmer gingen auf den Stensparken – einen gepflegt
wirkenden Park auf einem Hügel. Ingrid machte ihn auf die am Südende des Parks
gelegene Fagerborg Kirke aufmerksam – die Kirche, zu der sie jeden Sonntag
ging. Sonntag morgens, erzählte sie ihm, könne man im ganzen Viertel die
Kirchenglocken hören.
    »Der Organist an der Fagerborg-Kirche ist nicht mit deinem Vater
oder Andreas Breivik zu vergleichen«, sagte Ingrid, »aber für eine einfache
Klavierlehrerin wie mich ist er mehr als gut genug.«
    [762]  Sie hatte gelernt, sich beim Sprechen ihre langen Finger vor den
Mund zu halten oder

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